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noch zu sehen, den ihr Körper auf der Tagesdecke des Bettes hinterlassen hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte sie sich wie ein Geist. Durchscheinend. Sie versuchte, in Erics Miene zu lesen, aber es fiel ihr schwer. Sie wollte nicht riskieren, seine Unterstützung zu verlieren, aber sie konnte ihn auch nicht anlügen.

      Auf keinen Fall jedoch konnte sie ihm sagen, dass sie das, was er fürchtete, längst getan hatte.

      »Ich weiß es nicht«, murmelte sie. Es war nicht direkt eine Lüge, oder? Immerhin hatte sie keine Ahnung, ob sie ihn mit der Geschichte in ihrem Notizbuch tatsächlich umgeschrieben hatte. Vielleicht, nein, bestimmt war es nur ein Zufall, dass er sein Gewissen ausgerechnet zu dem Zeitpunkt entdeckt hatte, als sie sich begegnet waren. Sicher hatte er sie einfach nur sympathisch gefunden und war deswegen ins Nachdenken geraten. Das musste schließlich nicht mit ihrer Geschichte zusammenhängen. Die Sache mit seinem gebrochenen Handgelenk allerdings …

      Sie musste würgen.

      Er nickte. »Okay«, sagte er irgendwann. »Okay.« Er stand auf, kam auf Mila zu. Ein Muskel unter seinem Auge zuckte. »Versuch einfach nicht, es rauszufinden, ja?«

      Sie schluckte schwer. »Natürlich nicht.«

      Lügnerin!, kreischte eine Stimme in ihr und sie musste so elend aussehen, dass Eric ganz dicht vor sie hintrat.

      »Hey!«, sagte er. »Alles wird wieder gut.« Es war ein so absurder Satz, dass Mila lachen musste.

      Das schien irgendein Signal für Eric zu sein.

      Er schlang behutsam die Arme um ihre Schultern und zog sie fest an sich. »Es wird wieder gut«, wiederholte er.

      Sie verkrampfte sich kurz, aber dann übertrugen sich Wärme und Zuversicht von Erics Körper auf ihren. Sie lehnte die Wange an seine Brust und versuchte, ruhiger zu atmen. Sein Herz schlug regelmäßig, aber ziemlich schnell.

      Irgendwann zog Eric sie zum Bett und drückte sie auf dessen Kante nieder. Dann nahm er den Stuhl, stellte ihn schwungvoll direkt vor Mila hin, setzte sich und ergriff ihre Hände. Und da erzählte sie ihm das Meiste von dem, was sie wusste. Sie fing mit dem Überfall auf dem Friedhof an, merkte aber, dass es besser war, der Reihe nach zu berichten, weil sonst alles noch viel weniger Sinn ergab. Also kehrte sie zu dem Tag zurück, an dem sie in Paris angekommen war und die Obdachlose getroffen hatte.

      »Odette«, fiel er ihr ins Wort. »Ich war dabei, ja.«

      Sie sah ihn strafend an und er lächelte. »Bin schon still.«

      Den Abend im Club übersprang sie und erzählte Eric stattdessen, wie sie Maréchal an seinem Bücherstand getroffen hatte, wie er ihr in die Kathedrale Notre-Dame gefolgt war und ihr das Buch zukommen lassen hatte. »Vorhin ist er mir dann offenbar auch auf den Friedhof Père-Lachaise gefolgt.«

      Eric hob bei dem Namen die Augenbrauen und zog daraus seine eigenen Schlüsse. »Das war kein Touristenbesuch, oder?«

      Sie schüttelte den Kopf.

      Er wartete. Als sie nicht weitererzählte, hakte er nach: »Was wolltest du auf dem Friedhof, Mila?«

      Das Grab ihres Vaters und ihres Bruders besuchen.

       Von uns genommen durch großes Unglück.

      Schon wieder begannen ihre Augen zu brennen. Diesmal blinzelte sie gegen die Tränen an. »Mein Vater und mein Bruder sind da beerdigt.«

      Das entlockte Eric einen betroffenen Laut. »Das tut mir leid«, murmelte er.

      Sie wiegelte ab. »Sie sind vor meiner Geburt gestorben. Ich habe sie nie kennengelernt.«

      »Dann bist du nach Paris gekommen, weil du sie besuchen wolltest?«

      Sie antwortete nicht darauf.

      »Mila?« Eric sah sie sanft an.

      »Ja«, sagte sie und hatte das Bedürfnis, es zu wiederholen. »Ja. Ich wollte rausfinden, wie sie gestorben sind.«

      »Und? Hast du?«

      Sie schüttelte den Kopf und fuhr mit ihrem Bericht fort. So genau wie möglich erzählte sie ihm, was Maréchal über die Fabelmacht gesagt hatte.

      »Eine sehr, sehr alte Gabe«, wiederholte Eric. Er streichelte schon eine ganze Weile mit beiden Daumen ihre Hände, sie spürte die Wärme seiner Haut und es tat ihr gut, dass er bei ihr war. »Tja. So wie es aussieht, scheint er recht damit zu haben.« Nachdenklich legte er den Kopf schief und kniff die Augen leicht zusammen. »Das alles ist verdammt schräg, weißt du das?«

      Was sollte sie darauf antworten? »Findest du?«, murmelte sie dumpf und die Ironie in ihren Worten ließ ihn trocken auflachen.

      »Ach, ich treffe fast jeden Tag hübsche Mädchen, die von Auftragskillern gejagt werden und innerhalb eines Wimpernschlags aus einem weißen Shirt ein schwarzes machen.«

      Mila zog ihm eine ihrer Hände weg, griff sich an den Kragen und betrachtete ihn. Der Stoff war immer noch schwarz. Und ihr war immer noch schwindelig. »Warum glaubst du mir?«, fragte sie leise.

      »Weil ich es mit eigenen Augen gesehen habe?« Er klang verwundert, aber er schien ihre Verwirrung nachempfinden zu können. Kurzerhand setzte er sich neben ihr auf die Bettkante.

      »Warum denkst du nicht, dass es ein billiger Zaubertrick war?« Sie sah zu ihm auf.

      Einige Sekunden lang schien er zu überlegen, was er antworten sollte. Dann ließ er Mila los, stand auf und reichte ihr die Hand. »Komm mit mir. Ich will dir was zeigen.«

      Sie vermisste seine Nähe, aber das behielt sie lieber für sich. Stattdessen folgte sie ihm. Er führte sie aus der Suite hinaus auf den Flur und von dort aus zu einer unauffälligen Holztür, die ganz am Ende des Ganges lag. Dahinter befand sich eine Treppe. Über sie kamen sie auf den Dachboden des Hauses, der vollgestellt war mit alten Möbeln, mäusezerfressenen Kartons voller Bett- und Tischwäsche und allerlei Krimskrams, der sich in einem Haus wie diesem im Laufe der Jahre eben ansammelte. Im Vorbeigehen sah Mila eine alte Stehlampe mit goldenen Troddeln, einen Schaukelstuhl, in dessen Lederbezug offenbar Mäuse hausten, und einen dreibeinigen Kleiderständer, an dem mehrere schwarze Mäntel hingen.

      Der Anblick erinnerte sie an Nicholas und ihr wurde bewusst, dass sie Eric gegenüber eben kein Wort von ihm erzählt hatte. Sie schob den Gedanken fort. Für eine Weile wollte sie einfach nur bei Eric sein. Nicht nachdenken müssen.

      Der Dachboden war nicht das Ziel ihres Ausflugs, das merkte sie, als Eric an der Giebelseite ein kleines Fenster öffnete und hinauskletterte.

      Mila zögerte, ihm zu folgen. »Wohin willst du?«

      Er streckte den Kopf wieder zum Fenster herein und grinste. »Wirst du sehen.« Erneut reichte er ihr die Hand und diesmal folgte sie ihm vorsichtig hinaus auf einen Tritt, der offenbar für den Schornsteinfeger gedacht war. Zu ihren Füßen fiel das silbrige Metalldach schräg ab. Hinter ihr ragte es noch ein paar Meter höher. Sie kam sich vor wie auf einem schmalen Gebirgspfad am Rande einer Schlucht. Ein leichter Wind spielte mit ihren Haaren. Der Lärm der Stadt drang nur gedämpft zu ihr herauf.

      Ihr wurde für einen kurzen Moment kalt, obwohl es hier draußen viel wärmer als drinnen war.

      »Komm«, sagte Eric. Vorsichtig führte er sie den Tritt entlang bis zu einer Terrasse, die der am Nachbarhaus ziemlich ähnlich sah. Allerdings gab es hier weder Stühle noch Palme oder Bobbycar. Die grauen Bodenfliesen waren von einem feinen Netz aus Sprüngen überzogen. In einer Ecke lagen ein paar Blätter und rotteten vor sich hin.

      Mila sprang von dem Tritt und war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Das Häusermeer von Paris lag im schwächer werdenden Abendlicht vor ihr. Das Graublau der Dächer und das warme, samtige Schimmern der sinkenden Dämmerung schufen eine eigenartig melancholische Stimmung. Ein Schwarm Tauben erhob sich in die Luft und flog eine Runde über ihren Köpfen. Rechter Hand konnte Mila gerade noch den Eiffelturm erkennen, an dem genau in diesem Augenblick die Beleuchtung angeschaltet wurde. Das berühmte Bauwerk erstrahlte wie ein

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