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Lizzy seufzte hörbar. "Ich habe ein schwaches Herz, Mr. Groves, und Sie müssen schon entschuldigen, aber es fällt mir sehr schwer, mitanzusehen, wie Sie mit diesem guten Stück umgehen..."

      "Wie ein Fachmann, Ma'am!"

      "Mr. Groves..."

      "Das ist ein Stück Holz, Ma'am. Kein zerbrechliches Baby!" Ich wandte mich vom Türspalt ab und ging möglichst geräuschlos nach oben, wo meine Räume lagen. Ich zog mir die nassen Klamotten aus, duschte mich und stand dann schließlich vor meinem Kleiderschrank.

      Mein Gott, was soll ich nur anziehen?, fragte ich mich. Mein Blick ging zur Uhr. Acht Uhr rückte unaufhaltsam näher. Und dann wollte Tom mich ja schließlich abholen. Ich seufzte, nahm eines der Kleider aus dem Schrank, hielt es mir kurz an und warf es dann auf das Bett. Ich wusste genau, dass keine zehn Minuten vergehen würden, bis sich dort ein ganzer Garderobenberg gebildet hatte...

      Das Rote? Das Lindgrüne?

      Ich hielt plötzlich inne.

      Eine Erinnerung tauchte wie ein Schlaglicht in mir auf. Ich sah die bleiche Lady vor mir, wie sie im Regen stand und doch nicht nass wurde. Ein kalter Schauder überkam mich unwillkürlich, und ich wünschte mir in dieser Sekunde nichts so sehr, als mir nur darüber Sorgen machen zu müssen, ob ich für heute etwas Vernünftiges zum Anziehen finden würde... Mit unerbittlicher Gewalt drängten sich dann Bilder vor mein inneres Auge.

      Bilder, für die meine Gabe verantwortlich war. Ich spürte es ganz deutlich.

      Eine Vision!

      Wieder sah ich die blassgesichtige Frau vor mir. Im Hintergrund ein düsteres Gemäuer. Ihr bleiches Gesicht spiegelte sich in einem dunklen Teich.

      Die junge Frau schmiegte sich an die breite Brust eines dunkel gekleideten, aristokratisch wirkenden Mannes mit schmalem Oberlippenbart.

      Ich sah die Augen dieses Mannes vor mir.

      Sie waren grüngrau.

      Ein Schrecken durchfuhr mich.

      Nein!

      Ich musste schlucken und zitterte.

      Tom...

      Es war nicht sein Gesicht, nur seine Augen und sein Blick. Ja, er war es. Ich fühlte es.

      Dann war alles vorbei. Die Vision war verflogen wie ein böser Traum. Ich stand verwirrt da, fühlte mich ein wenig schwindelig. Und dabei fragte ich mich, was Tom mit dieser bleichen Lady zu tun hatte, die mich bis in meinen Schlaf verfolgte.

      *

      "GEHST DU NOCH WEG?", fragte mich Tante Lizzy, als ich endlich fertig war und die Treppe hinunterkam. Ich hatte ein lindgrünes, schlichtes Kleid an, dazu eine Perlenkette. Vielleicht war ich für den Besuch im Kino ein bisschen overdressed, aber ich hatte Lust darauf. In meinem Job ist es wichtig praktische Sachen zu tragen. Flache Schuhe und Jacken mit zahlreichen Taschen. Dazu Jeans.

      Aber an diesem Abend wollte ich etwas stilvoller daherkommen.

      Ich präsentierte mich Tante Lizzy und drehte mich einmal herum. "Na, sehe ich gut aus?"

      "Deinem Tom Hamilton werden die Augen aus dem Kopf fallen", war Tante Lizzy überzeugt.

      "Das will ich nicht hoffen, denn dann kann er mich ja gar nicht mehr bewundernd anschauen."

      Wir mussten beide lachen.

      Der Tischler war längst gegangen. Durch den Spalt in der Tür zur Bibliothek erhaschte ich einen Blick auf das Chaos, das dort herrschte.

      Tante Lizzy zuckte mit den Schultern, als sie meinen Blick sah. "Da denkt man, dass so ein Mann sein Handwerk gelernt hat und dann..." Sie atmete tief durch und griff sich in die Herzgegend. "Für mich war das jedenfalls für heute genug der Aufregung."

      "Das Geheimfach habt ihr nicht gefunden?"

      "Nein. Langsam beginne ich an meinen Kenntnissen über Antiquitäten zu zweifeln!"

      "Vielleicht hättest du diesen Mr. Groves einfach machen lassen sollen..."

      "Bist du des Wahnsinns? Sieh dir die Bibliothek an! Bei einem seiner stümperhaften Versuche, das Geheimnis dieses raffinierten Möbelstücks zu entschlüsseln, ist er ziemlich unsanft gegen eines der Regale gekommen. Ein Buch fiel um. Santinis Magische Welten, glaube ich. Du weißt ja, was für ein dicker Klotz das ist. Naja, und dann ging es wie mit den berühmten Dominosteinen..."

      Ich nickte.

      Dann sah ich zur Uhr.

      "Wenn ich zurückkomme, helfe ich dir aufräumen, Tante Lizzy!"

      "Lass nur! Du weißt, dass ich eigentlich niemanden in meiner Ordnung herumpfuschen lasse. Ein Gutes hatte das ganze aber!"

      "Ach ja?" Ich sah sie erstaunt an. In Tante Lizzys Augen blitzte es.

      Sie bedeutete mir mit einer Handbewegung, ihr in die Bibliothek zu folgen. Einige runde Tischchen fanden sich dort, die einem immer nur leid tun konnten, wenn Tante Lizzy sie mit schweren, ledergebundenen Folianten befrachtete. Manche dieser Tischchen waren daher schon ziemlich aus dem Leim gegangen und es war nur eine Frage der Zeit, wann der erste unter ihnen schlicht und ergreifend zusammenbrach. Auf den ersten dieser Tische hatte Tante Lizzy ein dünnes Bändchen mit verblichener Umschlagzeichnung gelegt. Die Fadenheftung löste sich bereits in ihre Bestandteile auf und als Tante Lizzy es in die Hand nahm und aufschlug, erhob sich eine Wolke feinen, grauen Staubes in die Luft.

      Ich musste niesen.

      Millionen kleiner Milben produzierten diesen Staub und hatten sich in Tante Lizzys Archiv häuslich eingenistet. Aber ein echter Bücherfreund denkt besser nicht an diese Dinge...

      "Hier", sagte sie und hielt das Bändchen empor. "Dies ist ist die sogenannte SCHULE DER UNSTERBLICHKEIT, eine Schrift des britisch-indischen Geistersehers und Okkultisten John Pranavindraman. Er wurde 1848 in Bombay geboren und reiste als junger Mann nach London. Während eine Reise auf den Kontinent soll er angeblich mit Hermann von Schlichten zusammengetroffen und später mit ihm korrespondiert haben. Allerdings ist dieser Briefwechsel nicht erhalten geblieben. Es spricht viel dafür, dass die Briefe bei demselben Hausbrand vernichtet wurden, der aller Wahrscheinlichkeit nach auch den zweiten, bislang verschollenen Band von Herman von Schlichtens Hauptwerk Absonderliche Kulte verschlang..." Tante Lizzy atmete tief durch und sah mich an. "Ich glaube, ich schweife etwas ab", gestand sie dann ein.

      "Nun..."

      "Du wirst jetzt sicher andere Gedanken im Kopf haben. Aber Pranavindramans SCHULE DER UNSTERBLICHKEIT könnte für Mr. Hamilton von Interesse sein... Der Autor beschreibt darin ähnliche Konzentrationstechniken, wie dein geliebter Tom sie im Tempel von Pa Tam Ran erlebte..."

      Ich ergriff das Buch, blätterte in den halbzerfallenen Seiten.

      Vor seiner Tätigkeit bei den LONDON EXPRESS NEWS war Tom bei einer großen Nachrichtenagentur angestellt gewesen. Unter anderem hatte es ihn auch in den Dschungel Südostasiens verschlagen, wo er im Dreiländereck von Thailand, Kambodscha und Laos zu einem geheimnisvollen Tempel gelangt war, dessen Mönche ihm mit Hilfe ihrer besonderen Konzentrationstechniken zu der Fähigkeit verholfen hatten, sich an frühere Leben zu erinnern.

      Tom war dutzendfach wiedergeboren worden.

      Seit seiner Kindheit litt er unter merkwürdigen Träumen. Erst die Mönche von Pa Tam Ran hatten ihn erkennen lassen, worum es sich dabei wirklich handelte. Um Erinnerungsbruchstücke aus früheren Leben.

      "Ich gebe das Buch nicht gerne aus der Hand, aber Mr. Hamilton schätze ich als zuverlässig genug ein, mir den Band unbeschadet zurückzugeben", hörte ich Tante Lizzy sagen.

      "Ich werde es ihm geben", sagte ich. "Aber erst morgen..." Tante Lizzy lächelte.

      "Ich verstehe", murmelte sie.

      *

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