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nicht einmal umdrehen, ich klebe fest, mein Rücken klebt fest. Es ist so dunkel, die Dunkelheit kommt immer näher, sie rückt auf mich zu, sie packt mich, sie ist kalt, sie fesselt mich und hält mich fest, sie erdrückt mich. Yannick! Yannick! Er ist nicht da! Er ist weg! Ich habe solche Angst! Wo ist er? Warum ist er nicht hier? Was ist passiert? Ist er gestorben? Hat die Dunkelheit ihn verschluckt? Nein, Yannick, du musst bei mir sein! Wo bist du? Nein, nein, nein, Yannick, »nein, Yannick!«

      Amy Sladowski riss die Augen auf. Sie saß aufrecht im Bett. Ihr Schlafanzug klebte an ihrem Körper und ihre dunkelblonden Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Ihr Herz pochte wie wild und ihre Augen waren feucht. Ihr Kopf dröhnte, ihr Körper war starr vor Angst, sie saß wie gelähmt da, konnte sich nicht bewegen. Noch immer war es dunkel um sie. Diese Dunkelheit aus ihrem Alptraum war immer noch da. Die bedrohliche Dunkelheit. Ein Schatten. Ein dunkler Schatten. Amy zuckte. Sie starrte ins dunkle Zimmer hinein, in dem es jetzt ganz langsam heller wurde. Langsam nahm Amy das Licht wahr, das durch die Jalousien schon ins Zimmer fiel. Langsam beruhigte sie sich wieder, atmete ruhiger, konnte sich bewegen, und in ihren Körper kroch die Wärme zurück, die in diesem Dachzimmer Ende Juli auch nachts herrschte. Von draußen vernahm Amy jetzt das Zwitschern von Vögeln, die mit der Dämmerung langsam zu singen begannen. Und auch gleich neben sich hörte sie jetzt etwas. Das vertraute, gleichmäßige, ruhige Atmen ihres Bruders. Sie bewegte langsam den Kopf und sah auf Yannick hinunter, der selig schlief; die Decke hatte er im Schlaf von sich gestoßen und einen Arm merkwürdig unter seinem Oberkörper vergraben.

      Der Anblick ihres schlafenden großen Bruders, ihres Helden und Beschützers, holte Amy endgültig aus der Schreckensstarre. Sie tastete auf der Matratze nach ihrem Plüsch-Pinguin Penny, legte sich wieder hin, zog trotz der Hitze die Decke über sich und schmiegte sich an Yannick an, der mit seinem tiefen Schlaf nichts von ihrer Unruhe wahrgenommen hatte.

      So lag Amy lange mit offenen Augen, obwohl sie vor Müdigkeit brannten, starrte ins Zimmer hinein und sah zu, wie die Tapete immer mehr Rosa annahm, je heller es draußen wurde.

      Als Yannick aufwachte, blinzelte er geradewegs in das Gesicht seiner schlafenden kleinen Schwester. Amy lag an ihn geschmiegt da, ihren Plüsch-Pinguin Penny zusätzlich an ihre Brust gepresst, und sah wie immer im Schlaf nicht ganz friedlich, sondern vielmehr etwas angespannt und unruhig aus.

      Sie hatte sich an ihm wieder einmal eingerollt wie ein Kätzchen; er spürte ihre Brüste an seinem Oberkörper und ihr Hintern lugte unter der Decke hervor. Ein kräftigerer Hintern als früher. Amy war weiblich geworden. Nicht einfach nur reifer, wirklich weiblich. Sie hatte richtige weibliche Kurven bekommen, füllige Brüste und kräftige Oberschenkel und sogar so etwas wie ein kleines Bäuchlein. Amy war nicht dick, auch als pummelig hätte man sie nicht bezeichnen können – sie war einfach an den richtigen Stellen fülliger geworden. Sie war ja auch schon sechzehn Jahre alt.

      Plötzlich regte sie sich, schlug ihre blaugrünen Augen auf, in denen seit jeher Misstrauen und Angst lag, Argwohn, aber auch ebenso viel Liebe, Sanftmut und Wärme. Wie so oft sahen sie sich beim Erwachen in die Augen, ganz und gar vertraut miteinander. Sie verstanden sich stumm.

      Ihre vollen Lippen umspielte ein Lächeln. »Guten Morgen.«

      »Guten Morgen.« Yannick streckte seine Hand aus und gab ihr mit dem Zeigefinger einen Stupser auf die zarte Nase. Das war seine Art, ihr seine Zuneigung und Liebe zu zeigen. Ein sanfter, neckischer Stupser auf die Nase.

      Und wie immer brachte Amy das zum Lächeln. Sie versteckte ihre Nase rasch unter ihrem Pinguin und revanchierte sich mit einem Pikser in seinen Bauch. Yannick musste grinsen und knuffte zurück.

      »Nicht!«, murrte Amy ohne Nachdruck und gähnte. »Ich bin noch nicht richtig wach.«

      Yannick setzte sich im Bett auf und streckte seine Arme, dass es knackte. »Weißt du, was wach macht? Frühstück.«

      »Ich glaube, ich habe in diesen Ferien schon fünf Kilo zugenommen «, murmelte Amy und machte keine Anstalten, sich zu rühren, als Yannick aufstand und die Jalousien hochzog. »Bei Mama gibt es einfach zu gutes Essen!«

      »Ich habe doch doppelt so viel gegessen wie du, und ich habe nicht den Eindruck, auch nur ein Gramm zugenommen zu haben.«

      »Du hast auch Glück mit deinem Stoffwechsel. Du bist und bleibst dünn.«

      Yannick hatte das Dachfenster aufgedrückt und spähte durch den Spalt. »Oh, Mama hat schon den Frühstückstisch auf der Terrasse gedeckt! Es gibt Croissants! Und Obstsalat!« Er ging zum Bett und zog Amy die Decke weg. »Los, steh endlich auf, sonst esse ich dir alle Croissants weg!« Damit war er aus dem Zimmer.

      Amys Kopf fühlte sich schwer an, hinter ihrer Stirn pochte es und ihre Augen brannten. Ihre ständigen Schlafmangelerscheinungen. Aber dass Yannick ihr die Croissants wegaß, das konnte sie nicht zulassen. Also rappelte sie sich auf, legte Penny liebevoll auf ihr Kissen und deckte ihn zu, dann lief sie ihrem Bruder hinterher die schmale Holztreppe hinunter.

      Ihre Mutter Veronica Treu wohnte den größten Teil ihrer Zeit in dem kleinen alten Dünenhaus gleich am Meer in Holland. Sie hatte es vor einigen Jahren erworben und sich somit einen Traum erfüllt. Lange Spaziergänge am Strand, frische Seeluft in der Nase, windzerzauste Haare und das Rauschen der Wellen in den Ohren waren seitdem ihr Alltag, der ihr jedoch nicht langweilig geworden war. Den anderen, weitaus geringeren Teil ihrer Zeit verbrachte sie in ihrem Apartment in Hamburg, oder in Hotels, wenn sie gerade auf Lesereise war. Die machte sie jedoch nur äußerst selten. Veronica Treu war Bestsellerautorin, weltweit begeistert gelesen, und sie gehörte zu der Sorte Autoren, die am liebsten nur hinter ihrem Schreibtisch saßen und schrieben, schrieben, schrieben, mit den Worten kämpften, mit den Figuren haderten, in aller Einsamkeit und Ruhe überlegten, sinnierten, ihren exzentrischen Gewohnheiten und Launen nachgingen und nichts von lästigen Lesungen, Autogrammstunden und überhaupt dem Auftreten in der Öffentlichkeit hielten. Sie gehörte gleichzeitig zu der Sorte Autoren, die wirklich Talent besaßen und ihre Arbeit als Kunst betrachteten und nicht als einen mit handwerklichem Geschick für die breite Masse auszuführenden Bürojob. Yannick hatte sich schon oft gedacht, dass das eine mit dem anderen bestimmt in Zusammenhang stand.

      Als Amy auf die Terrasse kam, steckte sich Yannick gerade bereits grinsend seine erste Croissant-Hälfte in den Mund. Veronica saß ihm gegenüber, eine Kaffeetasse und einen Notizblock vor sich. Veronicas ständiger Begleiter war ein Notizblock. Jetzt gerade kritzelte sie wie wild darin herum, kreiste so energisch Dinge ein, strich andere wieder durch oder versah sie mit Pfeilen, dass das Papier ratschte. Als Amy sich neben Yannick setzte, sah sie nur flüchtig auf. »Guten Morgen.«

      »Guten Morgen.«

      Amy sicherte sich schnell ein Croissant und schnitt es auf, wobei sie ihre Mutter unauffällig beobachtete. Sie war weiblich gebaut, mit den Jahren fülliger geworden und eigentlich sehr hübsch mit ihren dunklen Locken, den blauen Augen und der Brille, die sie richtig nach einer Autorin aussehen ließ. Wäre sie nur nicht immer so traurig gewesen. In ihren blauen Augen lag beinahe immer diese bedrückte, wehmütige Traurigkeit. Wenn man Veronica Treu kannte, sie und ihre zurückgezogene, abwesende Art und ihre traurigen Augen, dann wusste man, dass die Worte, aus denen ihre Geschichten bestanden, geradewegs aus ihrem Herzen kamen.

      Amy und Yannick waren jetzt endlich in dem Alter, in dem sie die Romane ihrer Mutter lesen konnten. Dramatische Liebesromane waren das, in denen stets Schicksalsschläge, gebrochene Herzen und verwundete Seelen vorkamen. Ein von Amy so sehr geliebtes Happy End hatten Veronicas Geschichten nicht, aber trotzdem mochte Amy sie, denn man konnte sich dennoch in ihnen verlieren. Yannick und Amy sahen ihre Mutter hauptsächlich als genau das, als ihre Mutter, aber sie, die sie beide gerne lasen, waren auch stolz darauf, dass sie eine Autorin war.

      »Gehen wir gleich zum Strand?«, fragte Amy.

      »Das fragst du noch?« Yannick spielte mit seinen Augenbrauen. »Du musst mich doch endlich beim Schwimmen schlagen!«

      »Das werde ich nie schaffen, Yannick, das weißt du!«

      »Vielleicht, wenn ich aus Versehen ganz viel Salzwasser auf einmal schlucke und es in die Augen bekomme und einen Moment orientierungslos herumrudere …«

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