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halten.“

      „Was muss noch alles geschehen! Hat Furrer dir was getan? Hat er dich angegriffen? Bist du verletzt? Ach, hätten wir den Fall gestern nur erledigt, dann wäre das nicht passiert.“

      „Hättet ihr den Fall ernsthaft bearbeitet, wäre das nicht passiert. Die Behörde hat mächtig geschlampt. Ich fasse es nicht! Kein Wort von euch, dass der Fall dringend wäre oder dass Furrer gefährlich werden könnte. Nichts! Habt ihr gedacht, die Neue kann der ruhig erschießen? Hauptsache, ihr seid aus der Schusslinie?“

      „Beruhige dich. Du bist aufgeregt, trotzdem solltest du nicht mit Beschuldigungen um dich werfen. Wer hätte denn das geahnt?“

      „Sorry! Ich reg mich erst richtig auf. Ich hänge an meinem Leben“, fauchte ich. „Und ihr werft mir vor, ich würde zu wenig Teamgeist zeigen. Wie bezeichnet ihr denn das, was ihr da macht? Ich nenne das Leute verheizen!“

      „Was wollte er denn? Hat er …?“, sie stockte. „Hat er …?“, das Unausgesprochene hing schwer zwischen uns.

      „Nein, er – hat – nicht! Aber ich hatte eine Scheißangst!“

      Sie stammelte ein paar Mea culpas.

      Dann fragte ich sie, was an Furrers Vorwürfen dran sei:

      „Wusstest du, dass Kevin Furrer drogenabhängig ist?“

      „Kevin? Hm. - Da war mal was. So genau kann ich das jetzt nicht sagen, aber …“

      „Hat er einen Entzug gemacht?“

      „Du fragst Sachen. Da müsste ich nachsehen.“ Und nach einer Pause erläuterte sie mir, nur weil jemand mal wegen Drogenbesitzes registriert worden sei, müsse er nicht zwingend drogensüchtig sein. Man solle den Menschen auch die Möglichkeit geben, ihr Leben neu anzupacken, und sie nicht immer an dem messen, was in der Vergangenheit war.

      „Also mach nicht so einen Aufstand! Es ist glücklicherweise niemandem etwas geschehen! Das ist eine Erleichterung. Tschüssi.“

      Kaum hatte sie aufgelegt, klingelte es erneut. Ein Konrad Hape vom Landboten meldete sich und wollte wissen, wie ich mich nach der Geiselnahme fühlte. Ich hängte wortlos ein.

      Nachbarin Marthe aus der Wohnung über mir kam an die Tür: „Hast du einen Schock?“

      „Logisch hat sie das!“, mischte sich Heiri, der Pensionär von schräg gegenüber ein, er war ebenfalls zu uns getreten.

      „Ich habe gerade einen Apfelkuchen gebacken. Magst du ein Stück?“, auch Lehrerin Sonja kam.

      „Magst du reden?“

      „Willst du einen Kaffee oder besser einen Schnaps?“

      „Oder einen Arzt?“

      Leute, die ich nur vom Sehen kannte, kamen mich besuchen und wollten mich trösten. Ich wurde wie eine Heldin umarmt, man schaute mir tief in die Augen, um darin nach dem Schock zu suchen, und klopfte mir auf die Schultern. Nach und nach beantwortete ich alle Fragen. Im Gegenzug wollte ich von ihnen wissen, was sie von dem Verschwinden der Mädchen hielten. Doch niemand schien gewusst zu haben, dass sie vermisst wurden. Es war unglaublich. Mein Herz begann zu rasen und ich musste mich setzen. Wie Blitze schossen mir Bilder von früher durch den Kopf. Wie ich rannte und verzweifelt das Kind suchte. Währenddessen plapperte mein Mund einfach weiter.

      „Ich konnte mich einfach nicht damit abfinden, dass mein letzter Anblick auf Erden nicht George Clooney, sondern ein schrumpeliger alter Kerl sein würde, dem mehr Haare aus der Nase wachsen als auf dem Kopf.“

      Ein entspanntes Grinsen zeigte sich auf den besorgt dreinblickenden Gesichtern um mich herum. Ihre Anteilnahme wärmte mir das Herz und beruhigte mich. Man gab mir das Gefühl, gut aufgehoben zu sein.

      Hier, in Berwil, in diesem kleinen, am äußeren Rand des Zürcher Weinlandes gelegenen Ort, war tagsüber nicht viel los. Die meisten der Berufstätigen fuhren nach Winterthur oder Zürich zur Arbeit, wodurch das Dorf in eine Art Dämmerzustand verfiel. Einzig ein paar rüstige Rentner mischten die Ruhe auf. Oder eine Handvoll Offroader lenkender Mütter, die Kind und Kegel in die Schule, die Ballettstunde oder den Agilitykurs und wieder zurück karrten. Wer hierhin zog, sehnte sich nach dem beschaulichen Landleben. Über die Hügel spannten sich grüne, gelbe und braune Felder und bildeten ein natürliches Mosaik, das von wuchtigen Waldstücken eingerahmt wurde. Auf meine von der Bildschirmarbeit abgestumpften Augen wirkte die Landschaft wie eine Frischzellenkur. Hier brach nur Hektik aus, wenn es um die Feuerwehrhauptübung ging.

      Den Dorfkern bildete die Kirche mit ihrem Vorplatz, flankiert vom alten Schulhaus und dem Dorfladen. Das Restaurant Linde an der Hauptstraße unten und zwei außerhalb siedelnde Bauern, denen achtzig Prozent des Grund und Bodens gehörten, rundeten das typische Bild der Landgemeinde ab.

      Zugegeben, es war nicht Liebe auf den ersten, doch immerhin auf den zweiten Blick gewesen, die mich bewogen hatte, hierher zu ziehen. Um ganz genau zu sein, war es die Liebe zu einem Mann gewesen: Herbert K., wortgewandter und erfolgreicher Verkaufsleiter einer Billig-Detailhandelskette. Die Liebe hatte leider nicht gehalten. Herbert war die Nähe zu den Leuten im Dorf zu viel geworden, er hatte sich überwacht und exponiert gefühlt. Nach neun Monaten verschwand er über Nacht, mit einer Jüngeren. Ich blieb. Anfangs hoffte ich, er würde reumütig zurückkehren. Doch nichts geschah. Später blieb ich, weil ich mich hier wohlfühlte und mir die Menschen ans Herz gewachsen waren. Hier kümmerte man sich umeinander. Die Nachbarn kamen mit Selbstgebackenem vorbei, fütterten die Katze in den Ferien oder gossen die Blumen im Garten. Und wenn die Reisenden wieder zurück waren, brachten sie Wurst oder Käse mit, den man unbedingt degustieren musste. Oder man hielt einen Schwatz über den Gartenzaun.

      Die Folge dieses engen Zusammenhalts war, dass mir die ganze Aufregung um Furrers Überfall nach einer Weile zu anstrengend wurde. Meine besorgten Freunde und Nachbarn ließen sich die Geschichte immer wieder erzählen, bis mir der Kopf brummte. Ich brauchte dringend eine Dusche und etwas Zeit für mich, um meine Gedanken zu ordnen. Also versicherte ich all den lieben Leuten, dass mir auch wirklich nichts weiter fehle als ein bisschen Ruhe. Seufzend schloss ich hinter dem Letzten die Tür.

      Unter der Brause seifte ich mich ausgiebig ein, ich hatte das Bedürfnis, den ganzen Albtraum durch den Ausguss zu spülen. Warum wusste niemand etwas über die Mädchen? Warum diese Heimlichtuerei? Die Worte „Pornoring“ und „verschachern“, die der Großvater benutzt hatte, drehten sich ununterbrochen in meinem Kopf.

      Ich wusste, wie es sich anfühlte, ein Kind zu verlieren. Eben war es noch da und im nächsten Augenblick ist es weg. Es passierte damals, als ich Babysitterin war und die vier Jahre alte Mona hütete. Ich war mit ihr auf einen Kinderspielplatz gegangen. Sie spielte munter mit den anderen Kindern im Sandkasten Kuchen backen. Danach folgte ihr mein Blick, wie sie zum Kletterturm lief. Ich ließ mich für einen kurzen Augenblick ablenken. Als ich wieder hochschaute, war sie verschwunden. Erst rief ich nach ihr, kletterte selber auf den Turm und suchte. Mit zunehmender Sorge rannte ich auf und ab. Ich fragte jeden, der da war. Aber keiner konnte mir helfen. Alle schauten sie mich mitleidig an. Niemand wusste etwas. Panik stieg in mir auf. War Mona einer fremden Person gefolgt? Hatte man sie weggelockt? War ihr etwas zugestoßen? Musste sie leiden? Spürte man in dem Fall nicht etwas – im Herzen oder im Bauch? Und diese Ohnmacht! War sie schon gestorben? Was spürte ich?

      Stunden später wurde Mona bei einer Nachbarin gefunden. Sie war ihr und ihrer Tochter nach Hause gefolgt und hatte bei ihnen weitergespielt. In der Zwischenzeit hatte ich Monas Mutter und den Vater informiert, schließlich auch die Polizei. Ich hatte Glück gehabt. Den Job als Babysitterin war ich trotzdem los.

      Insofern konnte ich Hans Furrer schon gut verstehen. Die Ungewissheit, die Sorgen und Ängste ließen ihn sicherlich keinen Schlaf finden. Ich würde mein Versprechen halten. Aber meine Möglichkeiten waren momentan eingeschränkt – hier, zu Hause. Noch tropfend trat ich aus der Dusche und rubbelte mich mit energischen Bewegungen trocken.

      Mein Telefon klingelte unentwegt, bis ich es lautlos stellte. Aus der Tür treten konnte ich auch nicht, ohne dass mich Fotografen bestürmten:

      „Kennen

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