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Ich bin doch eigentlich ganz anders!. Harald Miesem
Читать онлайн.Название Ich bin doch eigentlich ganz anders!
Год выпуска 0
isbn 9783347068216
Автор произведения Harald Miesem
Жанр Биографии и Мемуары
Издательство Readbox publishing GmbH
Wo ist mein Bruder?
Ein Tag nach dem anderen vergeht. Das Heim ist mein Zuhause geworden. Hier erlebe ich eine Freiheit, die ich vorher nicht kannte. Eine Freiheit ist für mich das Rollschuhfahren. Es wird meine Lieblingsbeschäftigung. Stundenlang bin ich oft unterwegs. Beim Rollschuhfahren komme ich innerlich zur Ruhe und kann meinen zahlreichen Gedanken nachhängen, ohne gestört zu werden.
Die Schwestern haben nichts dagegen, dass ich so lange Ausflüge mache, denn ich komme immer pünktlich zum Essen zurück, das wissen sie.
Auch heute kehre ich wieder einmal gedankenverloren von meinem Ausflug zurück. Da ich noch genügend Zeit bis zum Essen habe, beschließe ich, noch schnell meinen Bruder in seiner Gruppe zu besuchen. Doch ich finde ihn nicht! Erschreckt laufe ich zu den Schwestern und Erzieherinnen. Niemand weiß, wo er steckt. Aufgeregt tänzle ich vor einer Erzieherin von einem Fuß auf den anderen. Tränen füllen meine Augen: Was ist mit meinem Bruder passiert? Die Erzieherin schickt mich zur Oberin. Misstrauisch sehe ich sie an: Das kommt mir komisch vor! Wieso soll ich die Oberin fragen? Da ich nichts weiter erfahre, mache ich mich weinend auf die Suche nach ihr. Die Oberin läuft mir vor ihrem Büro über den Weg. Als sie mich sieht, wird ihr Gesicht ernster: „Harald, du suchst bestimmt deinen Bruder.“ Eine unheimliche Ahnung steigt in mir hoch: Sie hat sicherlich keine guten Nachrichten für mich. Die Oberin sieht mich mit traurigem Blick an: „Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit dir zu sprechen. Dein Bruder ist gestern in ein anderes Kinderheim verlegt worden. Wir haben alles versucht, um diesen Wechsel zu verhindern. Doch das Jugendamt in Duisburg hat anders entschieden.“ Wie vom Donner gerührt stehe ich vor der Oberin. Die Tränen versiegen augenblicklich. Ich sehe sie an, dann bricht eine unbändige Wut aus mir heraus. Ich renne aus dem Haus nach draußen, schnalle mir meine Rollschuhe wieder an und rase davon. Niemand kann mich aufhalten.
Nachdem ich eine große Runde gefahren bin, suche ich meinen Lieblingsplatz im Wald auf. Die Traurigkeit über mein Schicksal und die Ungerechtigkeiten von Erwachsenen übermannt mich. Ich weine bitterlich, einsam und alleine im Wald sitzend. Ich fühle mich so schrecklich verlassen! Nun ist niemand mehr von meiner Familie bei mir. Ich bin ganz alleine. Ich will nicht mehr leben!
Viele Stunden später erreicht mich eine Stimme, die meinen Namen ruft. Erschrocken schaue ich auf: Eine Erzieherin steht vor mir. Ich habe sie gar nicht kommen hören. Sie ist sensibel genug, mir keine Vorwürfe zu machen. Es ist bereits später Abend, und ich habe es nicht bemerkt. Schuldbewusst gehe ich mit ihr zum Haus zurück. Sie bringt mich in die Küche, schmiert einige Brote für mich, kocht mir einen Tee und setzt sich mit mir gemeinsam an den Tisch. Ich stecke wie in einem Nebel fest. Die Brote verschwinden in mir, aber eigentlich will ich gar nichts essen. Alles erscheint mir so unwirklich. Ich breche immer wieder in Tränen aus. In den nächsten Nächten mache ich wieder ins Bett und habe schlimme Träume.
Kapitel 2
Das Leben geht weiter
„Harald, zieh deine Sonntagshose und dein bestes Hemd an! Du wirst gleich abgeholt.“ Erstaunt sehe ich Schwester Annette an, die mir die Botschaft überbringt. „Von wem?“ Mich hat noch nie jemand abgeholt! „Das Jugendamt hat uns mitgeteilt, dass deine Eltern der Neuapostolischen Kirche angehören. Die Mitglieder der hiesigen Gemeinde sind bereit, dich sonntags zum Gottesdienst abzuholen.“ Verwundert und verwirrt schüttele ich den Kopf: Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals in einer Kirche gewesen sind! Brav ziehe ich mich an und folge kurz darauf schweigend Schwester Annette.
Vor dem Haus steht ein Auto, auf das sie schnurstracks zusteuert. Schwester Annette spricht kurz mit den Leuten, die im Auto auf uns warten. Ich werde aufgefordert einzusteigen. Schüchtern klettere ich auf die Rückbank des Wagens. Die Leute begrüßen mich herzlich, reichen mir die Hand und stellen sich als Ehepaar Grimma vor: „Du bist also der Harald!“
Schon wieder kennen Fremde meinen Namen! Die Frau lächelt mich an: „Wir freuen uns, dass du mit zum Gottesdienst kommst. Es wird dir bei uns gefallen!“ Freundlich sehe ich sie an, doch innerlich sieht es ganz anders in mir aus: Ich will nicht zur Kirche! Am liebsten würde ich aus dem Auto springen und zurücklaufen. Ich will nicht zu einem fremden Ort mit fremden Menschen fahren. Warum können die mich nicht einfach in Ruhe lassen? Innerlich zusammengekauert ergebe ich mich mein Schicksal. Die Fahrt verläuft schweigend. Wie so oft hänge ich meinen zahlreichen Gedanken nach.
Nach einer Weile wird das Auto auf einen Parkplatz gelenkt, auf dem bereits viele Autos abgestellt sind. Wir steigen aus, denn hier, so erklärt man mir, ist die Gemeinde. Überall stehen Menschen. Die Menge beängstigt mich. Ich fühle mich wie erschlagen. Herr und Frau Grimma wühlen sich mit mir im Schlepptau durch die Menschenmenge. Mir ist sehr unbehaglich in meiner Haut. In einem großen mit Stühlen zugestellten Raum angekommen gehen wir auf einen Mann zu. Das Paar unterhält sich kurz mit ihm, dann nimmt mich der Fremde an seine Hand. Ohne mich zu fragen oder sich vorzustellen, führt er mich zu einem Stuhl in der ersten Reihe. Dort soll ich Platz nehmen, während er sich neben mich setzt. Angespannt lasse ich mich auf den Stuhl fallen. Die Menschenmenge, die vor der Gemeinde stand, strömt nun auch in den großen Saal.
Der Gottesdienst beginnt mit einigen Liedern, die von allen mitgesungen werden. Ich fühle mich so fremd hier! Mir ist langweilig. Ich will hier raus! Nach dem Gesang erhebt sich der Fremde neben mir und schreitet nach vorne. Er dreht sich zu den Menschen, begrüßt die Gemeinschaft und deutet plötzlich auf mich: „Harald, komm mal nach vorne!“ Wie peinlich! Mein innerer Impuls sagt: „Lauf weg, Harald! Hier sind fremde Menschen, die jetzt auch noch von dir verlangen, dass du dich allen zeigen sollst. Tu das nicht!“
Doch ich bleibe wie angewurzelt auf meinem Platz sitzen. Ich fühle mich wie ein tonnenschwerer Stein. Der Mann muss mich dreimal auffordern, bis ich mich schließlich zögernd erhebe und mit schlotternden Knien nach vorne gehe. Mit gesenktem Blick schleiche ich zu ihm. Innerlich schreit es laut: „Lauf weg, Harald!“ Bei ihm angekommen, dreht er mich zur Menschenmenge, stellt mich der Versammlung vor und erwähnt dabei, dass ich aus dem Kinderheim bin. Ein allgemeines „Aha“ ertönt.
Nun leuchte ich wie die untergehende Sonne. Kann ich im Erdboden versinken oder einfach nur rennen, rennen, rennen? „Tu es doch, Harald!“, ertönt wieder die innere Stimme. Tapfer bleibe ich stehen und hoffe, dass es bald vorbei ist. Als ich mich endlich setzen darf, habe ich es sehr eilig, zu meinem Stuhl zurückzukommen.
Nun folgt eine lange Ansprache des Mannes. Nach einem weiteren Lied schiebt man mich zum Ausgang. Dort soll ich stehen und all den fremden Menschen die Hand schütteln. Brav tue ich, was man von mir verlangt, während die Menge aus dem Raum an mir vorbeiströmt.
Eine Frau bleibt vor mir stehen. Sie sieht mich an und drückt mir etwas in die Hand. Da ich keine Zeit habe, um nachzuschauen, was es ist, stecke ich den Gegenstand schnell in meine Hosentasche und schüttele artig weiter Hände. Nach kurzer Zeit drückt mir noch jemand etwas in die Hand. Auch das verschwindet in meiner Hosentasche. Als alle Menschen verabschiedet sind, bringt mich das Paar wieder ins Heim zurück.
Während der Fahrt bin ich in mich gekehrt. Wie im Nebel nehme ich wahr, dass mich das Ehepaar Grimma anspricht. Ich fühle mich überfahren: Wieder einmal wurde über mich bestimmt, egal, ob ich das will oder nicht. Ein
Schauer nach dem anderen geht durch meinen Körper. Wie schrecklich war das, vorne stotternd auf der Bühne zu stehen! Ganz entsetzlich!
Im Kinderheim angekommen kehre ich in mein Zimmer zurück und lasse mich auf mein Bett fallen. Alle Erlebnisse des Morgens ziehen nochmals an meinem inneren Auge vorbei. Ach ja, ich habe etwas in die Hand gedrückt bekommen. Moment mal, das ist ja noch in meiner Hosentasche! Neugierig greife ich hinein und ziehe zwei Münzen heraus: Sie haben mir Geld zugesteckt. Ich bin ein reicher Junge! In diesem Moment betritt Schwester Luise mein Zimmer.
Sofort entdeckt sie meinen Schatz: „Harald, das muss ich an mich nehmen. Du darfst das Geld nicht behalten.“ Das kann doch nicht wahr sein! Gerade noch reich, jetzt beraubt man mich meines Reichtums! Entsetzt sehe ich sie an: „Warum nicht?“ Lang und breit erklärt sie mir,