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Ecke. Vor ihm lag das Spiringstor, das südöstliche Stadttor. Der kürzeste Weg aus der Stadt.

      Er heftete den Blick auf den Boden, vergrub die Hände in den Taschen. Mit unendlicher Langsamkeit kroch er dem parabelförmigen Durchbruch der nach Westen abknickenden Stadtmauer entgegen.

      Und trotzdem: Einer der Torwächter zeigte auf ihn. Sein Kamerad schlug sich auf die Schenkel.

      Nur noch wenige Schritte.

      Sie feixten, rieben sich die Hände. Ein Herumtreiber kam wie gerufen. Vorbei die Langeweile.

      Aber er tat ihnen nicht den Gefallen, sondern tauchte in die namenlose Gasse, die neben der Stadtmauer zum Westerntor verlief.

      Schallendes Gelächter in seinem Rücken.

      Sollten sie doch.

      Ein paar Häuserlängen und er war außer Sicht.

      Je näher er dem Westerntor kam, desto klarer wurden die Geräuschfetzen, die der Wind vom Jahrmarkt herübertrug.

       Kapitel 3

      Stiefelgetrampel. – Der blonde Junge fuhr herum.

      Ein greller Blitz zuckte durch seinen Schädel. Er entfesselte eine Fontäne Blut, die aus der Nase schoss. Roter Nebel zog auf.

      Der Sommersprossige warf ihn gegen die Mauer. Pickelgesichts Knie rammte in seine Magengrube. Der blonde Junge ging zu Boden, krümmte sich. Ein Stiefel krachte gegen sein Kinn. Er schmeckte Eisenspäne.

      Er wollte sich aufrappeln, aber Jakob war schon über ihm. »Na warte, dir werd’ ich’s zeigen. Kommst in die Stadt, um zu klauen, hä?« Die engstehenden Wildschweinaugen des Fettwansts funkelten. Er spie dem blonden Jungen ins Gesicht, eine Faust donnerte hinterher. Dann packte er den blonden Schopf und hämmerte ihn auf den Kopfstein. »Dreckiger Bastard!« Aus Jakobs Mund lief Speichel. Und wieder knallte der Kopf auf den Boden – mit einem Geräusch, als zerbräche ein Ei.

      Jakob sah sich zu seinen Kumpanen um. Das Unbehagen in ihren Gesichtern stachelte ihn noch an. Dass sich sein Opfer nicht mehr rührte, registrierte er nicht. In ihm war nur noch wilde Raserei. Er holte aus.

      »Es reicht, Jakob!« Pickelgesicht ging im letzten Moment dazwischen. »Der Bastard hat genug.«

      Jakob blitzte ihn an. Widerworte waren ihm fremd. Seine Faust stand in der Luft – er ließ sie sinken. »Halts Maul! Mach dich lieber nützlich und filze ihn!«

      Pickelgesicht parierte. »Kein Heller«, meldete er nach ergebnisloser Suche.

      »Hä? Alle sagen, er hat der ollen Piepenbrink den Geldbeutel geklaut. Bis du blöde?«

      Pickelgesicht lag eine Erwiderung auf der Zunge, aber der Blick des Sommersprossigen war Warnung genug. Mit Jakob war nicht zu spaßen. Mit seinem Vater, dem Oberforstmeister des Niederwaldischen Distrikts, erst recht nicht.

      »Scheiße! Muss ich alles allein machen?«, schimpfte Jakob weiter. Aber auch er fand nichts. »Das Lumpenpack ist gerissen. Er hat das Geld versteckt. Garantiert.«

      »Und jetzt?«, fragte der Picklige. »Dem sind die Lichter ausgegangen, wette, der wacht so schnell nicht auf.«

      »Lasst uns abhauen«, sagte der Sommersprossige. »Der krepiert vielleicht.«

      Jakob wischte sich den Rotz aus dem Gesicht.

      »Wenn er abkratzt, möchte ich nicht in der Nähe sein«, insistierte Sommersprosse.

      »Na gut, weg mit ihm.«

      Die Flügel der Dielentür knarzten. Ein Mann betrat das Haus. Der rauchige Muff kitzelte in seiner Kehle, und er musste husten. Er räusperte sich und spuckte Schleim, der die Farbe des Lehms hatte, auf dem er landete.

      »Es ist spät«, begrüßte ihn seine Frau mit einem matten Lächeln. Dass der Husten ihres Gatten gar nicht aufhören wollte und so hässlich rasselte, vertrieb das Lächeln von ihrem Gesicht – ein schmales Gesicht mit einer schlanken Nase, dunklen Augenbrauen und hohen Wangenknochen, das einmal schön war und zu dem langen Hals und den zierlichen Schultern passte. Aber das Leben in Paderborn war hart und ließ Anmut schnell verblühen, und so hatten sich in das Antlitz Falten gegraben, die eine Sechsunddreißigjährige nicht haben sollte. Mit dem Grau ihrer zu einem Knoten gebundenen Haare und den schlaff herabhängenden Mundwinkeln zeichneten sie das Bild einer vom Leben enttäuschten Frau.

      Johanna legte das Hemd, das sie gerade flickte, beiseite. Sie hängte den Kessel ein paar Kerben tiefer über das Feuer und rührte in der Suppe. In der klaren Brühe schwammen ein Streifen Schwarte und glibberige Fleischbrocken. Sie produzierten riesige Fettaugen.

      Conrads Holzschuhe kratzten über den Dielenboden. Er hüstelte. Beim Feuer war die Luft noch schlechter, da sich dort der Rauch staute und schwerfällig über den Dachboden abzog. Er tätschelte seine Frau am Arm und schlurfte gleich weiter in die Stube. Die Eichenbohlen ächzten, als er auf einen Stuhl sackte. Er zog den anderen heran und legte sein lädiertes Bein auf die Sitzfläche. Keine Minute später fielen ihm die Augen zu.

      »Conrad, das Essen ist fertig.« Johanna rüttelte ihren Mann an der Schulter. Sie setzte ihm einen Teller Suppe und einen Becher Milch vor und stellte eine Lampe daneben. Von der Funzel ging ein ranziger Geruch aus, der sie jedes Mal ärgerte. Ob sie sich mal eine von den schönen Bienenwachskerzen aus ihrer eisernen Reserve gönnen durfte? – Conrad wäre bestimmt dagegen.

      Dieser hob den Kopf und rieb sich die Augen. Er fing an zu löffeln. So hastig, dass etwas Suppe aus den Mundwinkeln über das Kinn rann und auf sein Hemd tropfte.

      Draußen war es fast ganz dunkel. Das Schummerlicht im Haus schuf eine beklemmende Atmosphäre, in der die Eheleute Bargfeld kein Wort wechselten. Abgesehen von Conrads Schlürfen und einem gelegentlichen Rascheln, wenn der Wind durch die Dachritzen fuhr und mit dem Heu in den Hillen spielte, herrschte Stille.

      Als der Teller leer war, leckte ihn Conrad ab. Er wischte mit einem Ärmel über den Mund und rülpste.

      »Möchtest du mehr?«

      Conrad dachte an die Mettwürste, die über dem Feuer im Rauch baumelten – unter einem Drahtkorb, damit die Mäuse und Ratten nicht an sie herankamen. Aber er schüttelte den Kopf, denn sie waren kostbar. »Was hast du gemacht?«, fragte er, um auf andere Gedanken zu kommen.

      »Ausraufen, was sonst? Du doch auch.«

      »Hm.« Conrads Augen wurden kleiner. Er war kurz davor, wieder einzunicken.

      »Johannes ist noch nicht da. Der Herr hat ihn in die Stadt geschickt. Post austragen, glaube ich.«

      »Hast du die Kuh gemolken?«

      Johanna nickte. »Er kennt sich in der Stadt nicht aus.«

      Conrad wischte ihre Besorgnis mit einer Handbewegung weg. »Ach was, der Junge ist siebzehn, kein Kind mehr. Der wird schon kommen. Hauptsache, er ist pünktlich auf dem Feld. Sonst gibts ein Donnerwetter.«

      Es regnete nicht mehr, war aber kühl. Wolken jagten über das Firmament, an dem ein Hauch Dunkelblau an den Tag erinnerte. Immer wieder verdeckten sie den Halbmond.

      Was war geschehen? – Er konnte sich nicht richtig erinnern. Ein paar Bruchstücke, ein paar lose Enden, mehr förderte sein Hirn, das im Schneckentempo arbeitete, nicht zutage. Konkret waren einzig die Schmerzen. Immer wieder brandeten sie heran und schlugen über ihm zusammen. Am schlimmsten war das scharfe Stechen, das von den Wangenknochen ausging und über die Nase, die sich wie Haferbrei anfühlte, in die Stirn zog.

      Er wollte aufstehen, aber etwas pikste sein Gesicht, und er zuckte zusammen. Überall Blätter und stachelige Zweige, die er zur Seite bog, bevor er es wieder probierte. Im Stehen traf ihn das Wummern in seinem Kopf mit voller Wucht. Er erbrach so heftig, dass er Sterne sah.

      Allmählich ließ der Schwindel nach. Er versuchte, sich zu orientieren: Büsche und hohes Gras. Tintenschwarze Pfützen, die der Wind kräuselte. Weiter hinten reflektierte der Sandstein der Stadtmauer das Mondlicht, darüber ragten in konturlosem Einheitsgrau

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