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bevor die Gaukirche erreicht war, die erste Station der Prozession.

      Der Festzug betrat sie durch das barocke Westtor. Er defilierte durch das Mittelschiff des innen schlichten Gotteshauses und verließ dieses im Norden. Nach einem Rundgang über den Bogen, die Spirings- und Kampstraße nahm er Kurs auf das Rathaus.

       Kapitel 2

      Die Prozession hielt am Kump vor dem Rathaus, wo sie mehr und mehr mit den die Straßen säumenden Menschen verschmolz. Der Fürstbischof malte blumengeschmückten Kindern das Kreuz auf die Stirn. Er segnete Kranke und Gebrechliche, schüttelte Hände und winkte in die Menge. Derweil wurde die Schlange hinter dem Heiligenschrein immer länger. Sie reichte schon bis zum Gasthaus Charbon. Trotz des Regens standen die Gläubigen an, um dem silberglänzenden Behältnis zu huldigen, von dem sie Wunderdinge erwarteten. Waren sie an der Reihe, fielen sie scheinbar allem Irdischen entrückt auf die Knie und küssten es.

      Den besten Blick auf die Feierlichkeiten hatte man von gegenüber, von dem sechs Stufen erhöhten Kirchplatz der Marktkirche. Dort war es sehr voll, die Leute standen dicht an dicht wie die Orgelpfeifen.

      Auch Magdalena Surkamp. Gerade hatte sie den Rosenkranz mit dem Kreuzzeichen beendet, da platzte ihre Cousine Marie in die friedliche Ruhe, mit der das Gebet in ihr nachwirkte. »Du meine Güte! Wo ist mein Geld?« Maries Finger flogen über ihre Schürze. Sie kneteten die Stofffülle ihres Kleides und mehrerer Schichten Unterröcke, allein der Geldbeutel blieb verschollen.

      Marie kniete nieder – nicht als Zeichen ihrer Gottgefälligkeit, sondern um den Boden abzusuchen. Ein mühsames Unterfangen bei den vielen Füßen, zwischen denen kaum Platz war, und die immer mal ein bisschen vor und zurück trippelten. Ohne Erfolg richtete sich die Achtundsechzigjährige wieder auf. »So hilf mir doch, Lena!«, stöhnte sie. Sie hielt sich den Rücken, den die Gicht zwickte.

      Magdalena traute dem Braten nicht. Marie war alt. Das war sie selbst, aber nicht so tüddelig wie ihre Cousine. Marie warf Sachen durcheinander und vergaß manches einfach. Vor allem in jüngster Zeit. »Ach, Mariechen, der liegt bestimmt zu Hause.«

      »Hältst du mich für blöd?«

      Dazu sage ich besser nichts, dachte Magdalena.

      »Das schöne Geld«, jammerte Marie weiter. »Außerdem ist der Beutel ein Geschenk von meinem Anton. Gott hab ihn selig!«

      Das war allerdings ein Jammer. Magdalena wusste nur zu gut, was Andenken für eine Witwe bedeuteten. Georg, ihr eigener Ehemann, war vor acht Wochen verstorben. Er hatte sich die Blattern bei einer Geschäftsreise nach Paris eingefangen. »Oh je, das wäre wirklich schade. Also gut, wir suchen zusammen.«

      Die beiden Frauen tauchten ab.

      Der Geldbeutel blieb unauffindbar. Dafür entdeckte Marie zwischen all den schicken Schuhen und eleganten Beinkleidern ein nacktes Paar Füße. Über den ebenfalls bloßen Waden bollerte eine Hose, in deren Rückseite, eine Handbreit unter dem Gesäß, ein talergroßes Loch gähnte. Sie richtete sich auf und schickte ihre Augen auf Wanderschaft. Diese wurden schnell fündig: Ein strähniger Blondschopf stach aus der Masse der mit Hauben, Regentüchern und Dreispitzen behüteten Köpfe heraus. Marie, deren Laune auf dem Tiefpunkt war, stupste ihre Cousine an. »Sieh mal, der da!«

      Magdalena folgte ihrem ausgestreckten Arm. Schlagartig wurde ihr Gesicht hart. »Was hat so einer hier zu suchen?«

      »Elendiges Bettelpack!«, schimpfte Marie. »Höchste Zeit, dass was gegen die Plage unternommen wird. Nicht mal zu Libori hat man vor dem Pack Ruhe.«

      »Wetten, der hat was auf dem Kerbholz?« Dass sie kürzlich am Abdinghof eine Bettelhorde belästigt hatte, war Magdalena noch in lebhafter Erinnerung. Richtig zudringlich geworden waren die Schmutzfinken. »Würde mich gar nicht wundern, wenn er sich deinen Geldbeutel unter den Nagel gerissen hätte.«

      »Meinst du?«

      »Ich habe so was im Gefühl. Der führt was im Schilde. Allein wie er guckt.«

      Marie forschte nach einem Zeichen von Verschlagenheit in dem Jungengesicht, das starr auf die Prozession gerichtet war. Aber was sie sah, erhärtete den Verdacht kaum. Trotz der eingefallenen Wangen waren seine Züge harmonisch, ohne feminin zu wirken. Eher ging von dem starken Kinn eine markante Männlichkeit aus, die noch nicht voll entwickelt war. Auch der spärliche Bartwuchs und der schlaksige Körper, an dem ein klitschnasses Hemd wie eine zweite Haut klebte, sprachen dafür, dass der Knabe nicht älter als sechzehn oder siebzehn Jahre alt war. Eigentlich sieht er recht hübsch aus, bilanzierte Marie in einem Anflug von Mütterlichkeit.

      Um den herankriechenden Gedanken zu verscheuchen, dass sie ihren Geldbeutel doch zu Hause vergessen hatte, behielt sie das lieber für sich. »Dem Bengel sollte mal einer richtig auf den Zahn fühlen.«

      Der blonde Junge schnupperte in der vom Regen reinen Luft. Hm, wie gut es auf einmal roch! Nach Fleisch, frisch gebratenem, herrlich fettigem Fleisch. Auch nach etwas Süßem. Was konnte das sein? Dann kam er darauf: gebrannte Mandeln, und sein Magen schlug an wie ein bissiger Hund. Der Duft kam vom Westerntor, vom Magdalenenmarkt.

      Der Jahrmarkt, der gerissene Halunke, schickte seine Verführer durch die Westernstraße zum Rathaus, wo sie die Nasen der Leute kitzelten, ihnen betörende Bilder ins Hirn pflanzten. Wer konnte da widerstehen?

      Niemand, der Hunger hatte – die Prozession würde auch ohne ihn den Weg über den Schildern zurück zum Dom finden. Er hatte zwar keinen Heller, aber vielleicht schaffte er es, auf dem Rummel etwas zu essen aufzutreiben. Mit etwas Glück warf ihm ein Metzgergehilfe ein verbranntes Stück zu, oder ein Besoffener schlief über seinem halbvollen Teller. Mit Essen abstauben kannte er sich aus, das hatte er früh gelernt.

      Allerdings musste er sich sputen. Er hatte die Briefe bei Kaufmann Dufresne abgeliefert und sollte bereits auf dem Heimweg sein. Eine halbe Stunde, bloß nicht länger! Und dann rennen! Unterwegs fiele ihm hoffentlich eine Ausrede ein, falls Menne die Trödelei bemerkte.

      »Verdammter Lumpenbengel!«

      Der Blondschopf zuckte zusammen. Galt das ihm? Er blickte sich um.

      »Ja, du!«, zischte eine der in Schwarz gekleideten Weiber, die ihre Trauerhauben unter einem Regentuch zusammensteckten. »Hast du dich an meinem Geld vergriffen?«

      »Raus mit der Sprache, hast du ihren Geldbeutel?«

      Mehr und mehr Hälse reckten sich in Richtung der zeternden Frauenzimmer.

      Deren Tirade war noch nicht vorbei: »Ihr klaut doch alle wie die Raben«, ätzte die eine und fuchtelte mit ihren Hexenfingern herum. Sie sah sich nach einem Ordnungshüter um. Da keiner in der Nähe war, krakeelte sie in die Menge: »Nehmt euch vor dem Lump hier in Acht, gute Leute! Haltet eure Taschen fest!«

      Prompt durchbohrten argwöhnische Blicke den blonden Jungen, der erkannte, dass er einen Fehler begangen hatte. Leute wie er standen nicht einfach in der Gegend herum. Schon gar nicht im Herzen der Stadt, wo Paderborn sauber und schön und die Finanz- und Bildungselite zu Hause war. Das konnte nur Ärger geben – hätte er sich denken können. Also nichts wie weg!

      Er bahnte sich einen Weg durch das Gedränge, während die Frauen mehr Beschimpfungen über ihm ausschütteten. Andere stimmten ein, ohne zu wissen, worum es ging.

      »Verdammter Beutelschneider!«

      »Hau ab, elender Hundsfott!«

      »Zurück in deinen Schweinestall!«

      Der blonde Junge bekam es mit der Angst zu tun. Was war nur mit den Leuten? Eben noch ganz fromm und vornehm waren sie auf einmal wie verwandelt.

      Zack! – Ein Ellbogen knallte in seine Seite. Das tat weh.

      Jemand spuckte ihm ins Gesicht.

      Ein Betrunkener wollte ihn festhalten, doch eine Körpertäuschung ließ ihn ins Leere grapschen.

      Und endlich freie Bahn.

      Der Junge rannte die Kampstraße hoch. An ihrem Ende, vor dem Dalheimer Hof, hielt ein Zweispänner.

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