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Im Westen ist Amerika. Dirk Möller
Читать онлайн.Название Im Westen ist Amerika
Год выпуска 0
isbn 9783347056084
Автор произведения Dirk Möller
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Brombeeren und Nüsse halfen gegen den Hunger. Aber gegen die anderen Probleme waren sie machtlos. Er musste verschwinden. So schnell wie möglich. Man würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihn zu finden, das ganze Arsenal der Polizeigewalt auf ihn abfeuern – Jakob v. Hashagen war nicht irgendwer.
Dabei wollte er das alles nicht. Sondern sich ergeben. Jakob aber hatte nur gegrinst und auf ihn angelegt. Aber wer würde ihm, dem ›Schweinebengel‹, glauben? Ihm zuhören? Er war Freiwild.
Ludwig v. Hashagen schnaubte wie ein Ochse vor dem Pflug. Sein Schädel glänzte. »Schneller! Bewegt euch, ihr Idioten!«, trieb er seine Männer an.
Diese konnten kaum Schritt halten, denn für Anfang Oktober war es ungewöhnlich heiß und die Luft bereits am Vormittag bleischwer.
»Schlaf nicht ein, du elendig stinkender Mistkäfer«, grantelte er und donnerte seinem Vordermann eine Pranke auf die Schulter.
Tobias Morhagen, ein halbwüchsiger Kerl mit einem selten dümmlichen Gesicht, fuhr zusammen. Er wich dem hitzigen Blick des Oberforstmeisters aus, denn er war nicht in der Lage, irgendjemandem in die Augen zu sehen, weil er tatsächlich stank. Ein scharfer, fauliger Geruch hing ihm an von den Chemikalien und den sich darin zersetzenden Häuten, die tagtäglich durch seine bereits bräunlich verfärbten Hände gingen.
Hinter dem Oberforstmeister kämpften seine Adjutanten Brede und Hasberg und Waldwärter Overkamp mit dem nach Norden immer schwierigeren Terrain. Von den Ereignissen des Vorabends und einer schlaflosen Nacht gezeichnet stolperten sie saft- und kraftlos voran. Die beiden Soldaten, die Carl Adrian v.d. Asseburg abkommandiert hatte, machten auch nicht gerade einen taufrischen Eindruck. Ihre aufgedunsenen Gesichter und stattlichen Bäuche ließen vermuten, dass der Geheimrat nicht das schärfste Schwert der Paderborner Stadtwache ins Gefecht geworfen hatte, sondern die erstbesten Idioten, die seinen Weg kreuzten. Kamen noch Wilhelm und Heiner, zwei Knechte vom Gut. Der Freiherr vertrat den Standpunkt, mit ihrer Abstellung einen erschöpfenden Beitrag zur Aufklärung des Verbrechens geleistet zu haben, was der Geheimrat diskutabel und Ludwig v. Hashagen schlicht kriminell fand. Zumal die beiden Trantüten ebenfalls nicht vor Enthusiasmus sprühten.
Der Letzte im Bunde wahrte Abstand. Trotz seines viel zu warmen grauen Mantels vergoss er nicht ein Tröpfchen Schweiß. Er redete kein Wort, und niemand sprach ihn an, denn ihn umgab eine Aura, die nicht zum Plaudern animierte. Jeder hatte noch lebhaft vor Augen, wie er mit Johanna Bargfeld umgesprungen war.
»Irgendwo hier könnte es sein«, keuchte Tobias. »Mehr weiß ich nicht, ehrlich.« Er spekulierte darauf, endlich aus den unheimlichen Büschen verschwinden zu können, die er angeblich am besten kannte. Wie jeder im Dorf nahm er die Sage von dem spukenden Waldgeist, Katharina Peggelers ruhelose Seele, für bare Münze – eines Tages hatte sich die Witwe beim Kräutersammeln verirrt, war unter ungeklärten Umständen dem Wahnsinn verfallen und hatte sich das Leben genommen. »Wenn Ihr also gestattet«, fuhr er in freudiger Erwartung seiner Demission fort. Der Oberforstmeister packte ihn am Kragen. »Von wegen! Du bleibst, bis wir den Kerl haben. Das gilt für alle. Wer sich vorher aus dem Staub macht, ist ein Deserteur.« Demonstrativ griff er nach seinem Gewehr und stierte mit zusammengekniffenen Augen in die Runde. »Und so wird er auch behandelt.«
Seine Männer nickten ergeben. Nicht aber der Mann im grauen Mantel. Auf seinem käsigen Gesicht zeigte sich ein spöttischer Ausdruck.
Nach einer Weile stießen sie auf einen Bach. Sie folgten seinem Lauf bis zu einem Hain aus Haselnussbäumen, unter denen reife Früchte lagen. Der Mantelträger übernahm ungefragt die Führung. Was hatte er gesehen? Oder tat sich der Unsympath nur wichtig? Zu gerne hätte Ludwig v. Hashagen den renitenten Kerl geohrfeigt. Aber er ließ ihn fürs Erste damit durchkommen.
Der Sonderling reckte einen Arm in die Luft. Er spreizte die Finger. Alle blieben stehen. Nur Tobias Morhagen kapierte nichts und lief seinem Vordermann in die Hacken, was diesem einen Fluch entlockte.
Der Mann im grauen Mantel ging in die Hocke und studierte den seifigen Boden. Offenbar ergebnislos, denn er schlich ein Stück weiter, wo sich der Vorgang wiederholte. Diesmal wurde er fündig: ein Fußabdruck. Er richtete sich auf und witterte in den Wald. Sein dürrer Arm schoss nach vorn. Er zeigte Richtung Norden, wo nichts als Gestrüpp war. Den Zeigefinger der anderen Hand, die in einem Lederhandschuh steckte, legte er auf die Lippen.
Ludwig v. Hashagen pfiff auf die Ermahnung und stürmte drauflos.
›Krrschä, krrschä‹, rätschte der Eichelhäher. Sein Warnruf war noch nicht verhallt, da flog eine Schwarzdrosselfamilie auf. Nur einen Steinwurf entfernt.
Johannes saß kerzengerade. Er spähte in den Wald.
Da! – Es knackte im Gebüsch. Was war das? Sein Magen verkrampfte sich. Er raffte seinen Sachen zusammen und kletterte vom Baum.
Stimmen. Sie kamen vom Fluss.
Wohin? – Sein Blick flog hin und her.
Am anderen Ende der Lichtung war ein Fichtendickicht. Als dunkelgrüner Batzen stach es gegen den buntgefleckten Mischwald ab.
Er rannte los.
Die Bäume waren widerspenstig. Zweige rissen und zerrten an ihm, zerkratzten sein Gesicht. Totes Geäst spießte sich in seine Füße, bis er sich hinwarf. Das schwere Aroma der Fichtennadeln drang in seine Lungen, es verstärkte die beklemmende Enge. Sein Herz hämmerte.
Sie waren da.
Bäume. Nichts als Bäume. Ludwig v. Hashagen kratzte sich am Kopf. Er warf dem Mann im grauen Mantel einen misstrauischen Blick zu.
Dieser marschierte wie auf Kommando los. Als würde er einer unsichtbaren Spur folgen. Unter einer Buche ging er in die Knie, hob etwas vom Boden auf und reichte es dem Oberforstmeister. Er zeigte nach oben, ohne sich selbst die Mühe zu machen, den Kopf in den Nacken zu legen.
Während seine Männer verständnislos glotzten, kapierte der Oberforstmeister sofort – Haselnüsse lagen gemeinhin nicht unter Buchen. »Los, Schlappschwanz!«, herrschte er Tobias an. Weil der nicht reagierte, versetzte er ihm einen Tritt. »Sieh nach, ob er oben ist! Bewegung!«
Tobias hob an zu protestieren, aber eine saftige Ohrfeige beendete seinen Vortrag jäh. Mit hängenden Schultern trottete er los, den grimmigen Blick seines Befehlshabers wie eine Lanze im Kreuz.
Die Buche hatte im unteren Drittel kaum Verästelungen. Tobias schlang beide Arme um den Stamm und versuchte, wie an einem Seil hochzuklettern. Er rutschte aber immer wieder ab und riss sich die Hände auf.
Der seit einiger Zeit brodelnde Oberforstmeister kochte endgültig über. »Baumelst da wie ein Schinken am Haken. Welch ein Trauerspiel! Eine Beleidigung für meine Augen!« Er winkte die Knechte heran. »Ihr Trottel hebt ihn hoch. Und zwar ein bisschen plötzlich!«
Die Männer nahmen Tobias auf die Schultern. Der griff den ersten waagerechten Ast und zog sich hoch. Er setzte sich rittlings hin und starrte in die Krone, die in dem Wind schaukelte, der dem nahen Gewitter voranging. Weit oben, in der letzten stärkeren Verästelung, klemmte eine winzige Bude. Welch kühnes Versteck!
»Worauf wartest du? Beweg dich! Oder soll ich dir Beine machen?«, trieb ihn der Oberforstmeister an.
Tobias arbeitete sich Zoll für Zoll weiter. Er versuchte, das Schlottern zu vergessen, das seine Waden ergriff. Doch das war unmöglich. Es stieg über die Knie in die Schenkel und schüttelte den ganzen Körper. Er sah nach unten. Dort rotierte ein Strudel, der alles verschlang. Er stemmte sich hoch, um den nächsten Ast zu greifen, aber sein linker Fuß rutschte an einer Verwachsung ab und trat ins Leere. Seine Rechte verfehlte die nächste Astgabel, und er hing an einem Arm. Immer glatter wurde der Ast in seiner schweißnassen Hand. Seine Füße suchten Halt, aber da war nichts.
Der Kampf gegen die Schwerkraft war aussichtslos. Ganz langsam, als wollte