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Hauptbahnhof stiegen wir aus und bahnten uns einen Weg durch die Menschenmassen. Vor der Rolltreppe kratzte ich meinen Mut zusammen und blieb stehen. Jetzt oder nie, dachte ich. Was ich versprach, das hielt ich auch. Nicole hatte es genau so viel Überwindung gekostet, das mit ihrem Vater zu erzählen. Ich holte Luft, streckte beide Hände in die Höhe und versuchte, auf den Zehenspitzen zu balancieren.

      «Was machst du?», fragte Nicole.

      «Ballett.»

      «Hör auf, das ist ja peinlich!» Sie krümmte sich vor Lachen.

      Rund um mich sah ich grinsende Gesichter. «Aber nicht anstrengend», gab ich zurück.

      «Du machst es falsch.»

      «Mach es vor.»

      Ich glaube, ihr war es noch peinlicher als mir. Trotzdem warf sie sich in Pose und tanzte mir etwas vor. Es sah verdammt gut aus. Wie ein Affe ahmte ich es nach. Inzwischen hatte sich rund um uns herum ein Kreis Leute gebildet.

      «Siehst du, es ist ganz einfach, auf den Zehenspitzen zu stehen», foppte ich.

      «Dein Fuss ist nicht gestreckt. Ausserdem geht es beim Ballett nicht nur darum, auf den Zehenspitzen zu tanzen.» Sie verdrehte ihre Beine, bis sie dastand wie Goofy, beide Füsse abgewinkelt, die Fersen aneinander gedrückt.

      Ich fürchtete, die Bänder in meinen Knien würden reissen wie alte Keilriemen, versuchte aber, mir nichts anmerken zu lassen. Als sie in dieser Position dann eine Kniebeuge machte, wurde es mir zu viel. Das nannte ich nicht tanzen, sondern Masochismus. Bei ihr sah es ganz einfach aus. Nach der Kniebeuge schwebte sie wieder auf die Zehenspitzen und sprang so mühelos in die Höhe wie Mario auf ein neues Level. Ich kapitulierte. Game over.

      Dass ich dann einfach ihre Hand nahm, sagte wohl alles über meinen Zustand aus. Unter normalen Umständen hätte ich mich nie getraut, sie zu berühren. Aber die Blicke der Leute, das Kribbeln in meinem Bauch, das alles war mir zu viel. Ich packte Nicole und rannte einfach drauf los, quer durch die Bahnhofshalle. Statt Dampf abzulassen, heizte mir der Spurt jedoch erst richtig ein. Als ich glaubte, nächstens zu explodieren, zwang ich mich, langsamer zu werden. Keuchend sah ich zu Nicole. Das war ein Fehler. Ihre Augen leuchteten, und sie grinste breit. An ihrem Hals klebte eine Haarsträhne, die ich am liebsten geküsst hätte. Das Kribbeln in meinem Bauch wurde immer stärker. Oh nein, flehte ich stumm, bitte nicht. Ich versuchte, an etwas anderes zu denken. An meine Hausaufgaben. An den verhassten Deutschlehrer. An eine Eisscholle. Es nützte nichts. Mein Puls hämmerte in meinen Ohren, bis ich nichts anderes mehr hörte. Meine Hand war klatschnass und so verkrampft, dass ich meine Finger nur mit Mühe von Nicoles lösen konnte.

      Zum Glück stürzte sich Julie zu Hause sofort auf Nicole. Vaters Aufmerksamkeit war jedoch ganz auf mich gerichtet. Er zog die Augenbrauen zusammen, öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder.

      Ich huschte in mein Zimmer und liess mich bäuchlings aufs Bett fallen.

      7

      verschiedene welten

      Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn Vater an diesem Abend nicht zu Hause gewesen wäre. Vielleicht sässe ich jetzt in meinem Zimmer, einen Controller in der Hand, und würde mit einem Gegner um die Wette rasen, statt im Zürichsee zu versinken.

      Aber Vater war zu Hause.

      Und mir geht die Luft aus. Der Druck in meinen Lungen nimmt langsam zu. Fast begrüsse ich den Schmerz, wenigstens lenkt er mich von der Wut ab, die ein fester Teil von mir geworden ist.

      Was kann ich dafür, dass ich in Kosova zur Welt gekommen bin? Habe ich etwa darum gebeten? Nicht, dass ich etwas gegen meine Heimat hätte. Meine Ferien verbringe ich gerne in Lebushe, wo die meisten meiner Onkel wohnen. Ich habe 58 Cousins und Cousinen in der Gegend, überall bin ich willkommen. In den Sommermonaten sitzen wir zusammen – nicht alle auf einmal natürlich – und tauschen Neuigkeiten aus, spielen Fussball, essen und trinken bis spät abends. Prizren und Peja sind ganz nah, manchmal setzen wir uns auch dort in ein Café. Es ist viel lockerer als in der Schweiz, und es wird viel gelacht, jedenfalls in den Ferien.

      Aber es ist auch anders. Wenn ich dort bin, kommt mir das ganz natürlich vor. Du siehst zum Beispiel nie ein Mädchen, das alleine unterwegs ist. Und auch keines mit bauchfreiem T-Shirt, zumindest nicht auf dem Land, wo ich herkomme. Die meisten meiner Cousins teilen sich ein Zimmer, niemand hat einen Raum für sich alleine. Was immer man tut, irgendjemand sieht einen dabei. Für mich ist das ganz okay – wenn ich in Kosova bin.

      Das Problem ist, dass Vater keinen Unterschied macht. Auch in der Schweiz behandelt er uns, als wären wir in Kosova. Ich habe zwar mein eigenes Zimmer, aber mein Lehrlingslohn geht auf Vaters Konto. Chris darf seinen behalten, dafür zahlt er einen Beitrag an die Wohnungsmiete. Wenn ich etwas brauche, muss ich Vater fragen, und er entscheidet, ob es nötig ist. Das wiederum hängt von meinen Noten ab. Sind sie gut, so liegt ein Hunderter für ein neues Fifa-Spiel drin. Sind sie schlecht, so kassiere ich von Vater einen strengen Blick statt Geld. Es ist ganz schön mühsam, nicht selbst entscheiden zu dürfen.

      Einmal fragte mich Chris, warum ich immer gehorche. Die Erklärung dafür in Worte zu fassen, ist nicht leicht. Vater hat mich noch nie richtig geschlagen, ab und zu habe ich zwar eine Ohrfeige kassiert, aber das war’s dann schon. Das Problem liegt ganz woanders: Wenn ich Vater nicht gehorche, weiss es die ganze Familie. Es ist, als würde man mit einem rosaroten BMW herumkurven. Oder Ballett am Hauptbahnhof tanzen. Es fällt einfach auf. Plötzlich wäre ich der Aussenseiter. Ausserdem würde Vater sein Gesicht verlieren, weil er seinen Sohn nicht im Griff hat. Das würde dem Ruf unserer Familie schaden.

      Kurz: Baue ich Mist, so trifft es alle.

      Bis jetzt hatten Vater und ich die gleiche Vorstellung von Mist. Ich war nicht stolz auf meinen Ausrutscher mit dem Taxi. In Handschellen abgeführt zu werden, fuhr mir ganz schön ein, auch wenn einige Kollegen das cool finden.

      Aber dass Nicole auch in die Kategorie «Mist bauen» fiel, war mir nicht klar. Nun ja, irgendwie schon. Sonst hätte ich mir nicht solche Mühe gegeben, meine Gefühle für sie zu verbergen. Richtig bewusst wurde es mir aber erst, als Vater handelte.

      8

      die auserwählte

      Ich stand vor dem Spiegel und fuhr mir mit der Hand übers Kinn. Wenn Chris Recht hatte und der Bartwuchs durch häufiges Rasieren kräftiger wurde, war ich die grosse Ausnahme. Trotzdem griff ich nach dem Rasierer.

      «Leotrim!», rief Mutter. «Das Essen steht auf dem Tisch!»

      Ich fuhr ein letztes Mal meinen Hals entlang und stellte den Rasierer in den Spiegelschrank zurück. Mit dem Aftershave würde ich warten bis nach dem Essen.

      Julie seufzte theatralisch, nachdem ich mich gesetzt hatte.

      «Was?», fragte ich gereizt. Immer musste sie alles kommentieren.

      «Du verbringst mehr Zeit im Bad als ein Mädchen!»

      «Gjyle, hast du Stoff für deine Bluse gefunden?», fragte Mutter.

      Sofort war Julie abgelenkt. Wenn man Stoffe oder Kleider erwähnte, dachte sie an nichts anderes mehr. Sie quasselte etwas von Baumwolle, die sich wie Seide anfühle, aber nur halb so teuer sei. Meine Gedanken schweiften ab. Ich hatte zwei Tickets für das Lokal-Derby erhalten und fragte mich, ob ich Nicole einladen sollte. Was, wenn Fussball sie anödete? Sie hing vermutlich eher in schicken Clubs ab.

      Während Julie die leeren Teller aufeinander stapelte, schob ich meinen Stuhl zurück. Da riss mich Vaters Stimme aus den Gedanken.

      «Leotrim, setz dich bitte.»

      Er tauschte mit Mutter einen Blick. Auch sie blieb sitzen, statt sich um den Abwasch zu kümmern. Verwirrt sah ich wieder zu Vater. Ich konnte den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht deuten, aber mir war klar, dass er nichts Gutes verhiess.

      «In wenigen Monaten wirst du achtzehn», begann Vater.

      Genau genommen erst im nächsten Sommer, dachte ich, sagte aber vorsichtshalber nichts.

      «Es

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