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Escape. Petra Ivanov
Читать онлайн.Название Escape
Год выпуска 0
isbn 9783858827791
Автор произведения Petra Ivanov
Жанр Учебная литература
Издательство Readbox publishing GmbH
Genau das tat Vater bei mir. Was er sah, gefiel ihm nicht.
Warum strample ich eigentlich noch? Schlimmer als das Leben kann der Tod nicht sein. Ich bin kein Emo, aber ich weiss, wann ich verloren habe.
6
annäherungsversuche
Nicole verbrachte immer mehr Zeit mit Julie. Nach der Arbeit rannte ich manchmal den ganzen Weg nach Hause, weil ich es nicht aushielt, auf den Bus zu warten. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, mein Verhalten würde Vater auffallen. Aber nicht nur er merkte, dass ich verknallt war, auch Julie entging meine Aufregung nicht.
Als ich an einem besonders lauen Abend in die Wohnung stürzte, roch ich schon im Treppenhaus Paprika. Da Mutter bis halb sieben arbeitete, wusste ich, dass Julie kochte. Und wenn Julie zu Hause war, standen die Chancen gut, dass Nicole da war.
Vorsichtig stiess ich die Küchentür auf. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich Nicole erblickte.
Sie fragte, ob ich einen Moment Zeit habe. Jetzt streikte auch meine Lunge.
«Für dich immer», zwitscherte Julie.
Ich warf ihr einen warnenden Blick zu, doch sie wandte sich grinsend ab.
Nicole wollte wissen, ob jemand an ihrem Laptop gewesen sei. Das Hintergrundbild zeigte sie auf demselben Segelboot wie das Foto im Internet. Doch auf diesem Bild wurde sie halb von einem alten Typen verdeckt. Ihr Vater? Er hatte die gleichen blauen Augen wie sie und sah ziemlich cool aus. Von grauen Haaren oder einem Bauchansatz war nichts zu sehen.
Um herauszufinden, ob sich jemand an ihrem Laptop zu schaffen gemacht hatte, zählte ich die zuletzt verwendeten Programme auf. Nichts kam Nicole verdächtig vor. Als ich auf eine Kopie der CD stiess, die ich Chris ausgeliehen hatte, staunte ich nicht schlecht.
«Etno Engjujt?», fragte ich. Täuschte ich mich, oder wurde sie tatsächlich rot? Ich kratzte meinen Mut zusammen und fragte, wie ihr die CD gefalle.
«Eigentlich stehe ich nicht so auf Rap, aber die Beats sind nicht schlecht», antwortete sie.
Tollkühn fuhr ich fort: «Wenn du albanische Musik magst, hätte ich dir noch andere Songs. Kennst du Lori? Es gibt ein starkes Lied von ihr mit Sinan Hoxha.»
«Ist das die Musik, die neulich bei dir lief? Mit dem Dudelsack?»
«Das ist kein Dudelsack, sondern ein Kavall.» Und dann passierte es. «Ja, ich glaub, ich liess Hoxha laufen. Er singt super schöne Liebesballaden.» Hatte ich soeben etwas von Liebesballaden gelabert, oder war das nur ein böser Traum?
Diesmal war ich sicher: Sie lief rot an. Stotternd versuchte ich, die Situation zu retten, und machte natürlich alles noch schlimmer. «Ich … ich meinte nicht …»
«Leo, deckst du bitte den Tisch?», rief Julie aus der Küche.
«Gleich», krächzte ich und startete mit zitternden Fingern den Internet Explorer. «Provider?»
«Hotmail.»
«Mit Alt und Pfeil nach unten kannst du nachsehen, welche User-IDs eingegeben wurden. Nennst du dich Nicole?»
«Nein, ich gebe meine Mailadresse ein.»
Ich drehte den Laptop so, dass sie den Bildschirm besser sah. «Der vorletzte Eintrag war ‹Nicole›.»
«Was bedeutet das?»
«Dass jemand versucht hat, deine Mails zu lesen.»
Als sie mich mit einer Mischung aus Bewunderung und Dankbarkeit ansah, fühlte ich mich so mächtig wie Iron Man, wenn er mit seinem Mini-Reaktor die Rebellen in Afghanistan besiegte.
Von diesem Abend an redeten wir ganz normal miteinander, abgesehen davon, dass meine Stimme meistens eine Oktave höher klang als üblich. Ich fragte mich nicht, warum jemand Nicole nachspionierte. Hauptsache, es gab mir einen Grund, sie zu beschützen. Als ich erfuhr, dass sie einen Nebenjob in der Recyclingfirma angenommen hatte, schlug ich freudig gegen die Wand. Jeden Mittwochnachmittag würde sie im Metalllager aushelfen. Wenn ich am Morgen eine halbe Stunde früher mit der Arbeit begann und nur dreissig Minuten Mittag machte, konnte ich um vier losfahren, um sie abzuholen.
Sollte ich sie fragen, ob das okay war? Oder einfach auftauchen? Was, wenn sie mir die Sache mit den Frauenrechten wieder an den Kopf warf? Mädchen waren total unberechenbar.
«Sag mal», fragte ich meine Schwester beiläufig, während sie das Geschirr spülte, «wohnt Nicole schon lange da?»
Julie warf mir ein Geschirrtuch zu. «Du kannst abtrocknen.»
«Das ist deine Aufgabe!», wehrte ich mich.
«Nicole mag keine Machos», flötete Julie.
Brummend gab ich nach. «Und?»
«Und was?»
Ich holte verärgert Luft.
Julie lächelte zuckersüss. «Warum willst du das wissen?»
Ich schwöre, sie genoss es!
«Gjyle!»
«Vier Monate.»
«Und vorher?»
«Vorher was?»
Das reichte. Wütend schleuderte ich das Geschirrtuch auf den Boden und stapfte davon.
«Vorher lebte sie an der Goldküste», rief mir Julie nach. «Ich glaube, in Erlenbach. Sie ging auf ein privates Gymnasium.»
Nicole war nicht nur reich, sondern auch noch intelligent. Aber warum wohnte sie jetzt in dieser Bruchbude? Wohl kaum freiwillig. Und dass sie offenbar vom Gymnasium geflogen war, bedeutete, dass wir uns möglicherweise gar nicht so unterschieden.
Das löste aber mein Problem noch nicht. Sollte ich Nicole fragen, ob ich sie abholen durfte? Oder einfach hingehen? Ich entschied mich, ihr nichts zu sagen. Als ich am nächsten Mittwoch eine halbe Stunde früher aufstand, war Vater im Bad. Ungeduldig wartete ich, bis er sich rasiert hatte. Endlich ging die Tür auf.
«Du bist schon auf?», bemerkte er überrascht.
Ich murmelte etwas Unverständliches und drückte mich an ihm vorbei.
«Leotrim!»
Ich blieb stehen, ohne mich umzudrehen.
«Leotrim», wiederholte Vater.
«Ja?»
«Sieh mich an, wenn ich mit dir spreche.»
Langsam drehte ich mich um. «Ja?»
«Hast du deine Hausaufgaben vergessen?»
«Nein, warum?»
Er sah demonstrativ auf die Uhr. Als ob mich mein Boss früher zur Arbeit bestellte, wenn ich meine Hausaufgaben nicht machte! Vater hatte keine Ahnung. Ich sah, dass er eine Erklärung erwartete. Ich wollte nicht verraten, dass ich Nicole abholte. Möglicherweise ahnte ich die Folgen bereits damals.
Lügen war zu riskant, also entschied ich mich für einen Teil der Wahrheit und erklärte, dass mir mehr Freizeit bleibe, wenn ich früher aufstände. Eine Ewigkeit lang starrte mich Vater nur an, bis meine Nase vom Geruch seines Rasierwassers zu jucken begann. Das brachte mich auf eine Idee.
Als ich endlich die Badezimmertür hinter mir zugezogen hatte, duschte ich kurz und holte anschliessend seinen Rasierer hervor. Es war nicht so, dass ich wirklich eine Rasur brauchte. Die paar Härchen auf meinem Kinn hatte ich letzte Woche schon wegrasiert. Aber Chris behauptete, dass der Bartwuchs kräftiger wurde, wenn man sich häufig rasierte. Ausserdem liebten Frauen Düfte, oder nicht? Also trug ich nach dem Duschen grosszügig Rasierwasser auf. Auch mit dem Deo hielt ich mich nicht zurück.
Ich hätte damit besser bis nach dem Frühstück