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Mir gefallen die schwarzen Haare meines Vaters besser.

      «Weiss sie, dass wir kommen?», fragt Julie.

      «Nö.»

      «Du hast nicht angerufen?» Sie schaut mich schief an. «Warum nicht?»

      Weil Mam mich abwimmeln würde, denke ich. Seit sie Klaus kennengelernt hat und das Sofa neu beziehen liess, ist sie anders. Was ich treibe, ist ihr ziemlich egal, Hauptsache, ich mache keinen Ärger. Als ich bei ihr wohnte, musste ich bereits um zehn Uhr zu Hause sein, sogar am Wochenende. Sie behauptete, ich sei zu jung, um mich in der Stadt herumzutreiben. Damals war ich fünfzehn. Jede Woche schleppte sie mich ins Theater oder, noch schlimmer, in die Oper. Seit ich bei meinem Vater lebe, stellt sie keine Regeln mehr auf. Dafür gibt sie ihm die Schuld, wenn ich etwas verbocke.

      «Soll ich draussen warten?», fragt Julie.

      Ich schüttle den Kopf. Vor Julie wird sich Mam zusammenreissen.

      «Meine Eltern würden Familienangelegenheiten unter sich regeln wollen», sagt Julie in einem skeptischen Tonfall.

      Ich zucke mit den Schultern.

      «Sagst du es ihr wegen Lily?», bohrt Julie weiter.

      «Nö.» Mam würde eine Krise schieben. Nicht, weil ich Mist gebaut habe, sondern weil ich Lily hüten muss. Dass mein Vater und Regina ein Baby haben, findet sie das Hinterletzte. Sie behauptet, er sei psychotisch und könne deshalb keine Beziehung zu einem Kind aufbauen. Keine Ahnung, was genau sie damit meint, aber sie braucht das Wort häufig. Sie findet alle Menschen krank. Das kommt wohl davon, dass sie Psychiaterin ist. Mein Vater traut dafür niemandem. Eine Polizistenkrankheit.

      Ich merke, dass ich schon ziemlich lange da stehe und das Schild neben der Klingel anstarre. Julie sieht mich schon richtig schräg an. Ich raffe all meinen Mut zusammen und läute.

      11:40

      Christopher! Wie siehst du denn aus!» Mam lässt uns herein und eilt davon. «Bleib dort! Ich hole ein Frottiertuch.»

      «Sie ist Deutsche?», flüstert Julie hinter mir.

      Ich bin so an Mams Aussprache gewohnt, dass sie mir nicht mehr auffällt; als ich klein war, haben wir zu Hause hochdeutsch gesprochen. Das änderte sich, nachdem ich in die erste Klasse gekommen war. Plötzlich schämte ich mich. Ich wollte wie alle anderen sein. Deshalb sprach ich nur noch schweizerdeutsch, wenn Freunde mich besuchten. Mam gefiel das gar nicht. Da ich nicht so beliebt war, hatte Mam nicht allzu viel Gelegenheit, sich zu nerven.

      Viel schlimmer waren die Besuchstage in der Schule. Die meisten Mütter sassen still im Hintergrund, nur Mam stellte der Lehrerin immer Fragen. Nicht über den Schulstoff. Sie wollte wissen, warum diese oder jene Methode angewendet wurde, sprach von Entwicklungspsychologie und Lernverhalten, bis ich am liebsten im Boden versunken wäre. Eine Zeit lang behauptete ich, sie wäre gar nicht meine richtige Mutter. Die meisten glaubten es mir. Mam hat lange, blonde Haare und helle Haut. Ich hingegen war schon als Kind dunkel. Da mein Vater nie an die Besuchstage kam, merkte niemand, dass ich ihm glich. Ich konnte mich problemlos als Waisenkind ausgeben.

      Mam kommt zurück und beginnt, meine Haare trocken zu reiben. «Was ist mit deiner Nase passiert? Sie ist geschwollen! Hast du dich etwa geprügelt?» Sie klingt mehr überrascht als wütend.

      Schlägereien meide ich in der Regel. Ich bin kein Masochist.

      Mam sieht mein Kopfschütteln nicht, weil mich das Handtuch bedeckt. «Und wen hast du da mitgebracht? Willst du mir deine Begleitung nicht vorstellen?»

      Julie kommt zaghaft einen Schritt näher und streckt die Hand aus. «Guten Tag, Frau Cavalli. Ich bin Julie Ramadani.»

      Mam mustert sie von oben bis unten. Als sie bei Julies Stiefeletten ankommt, starrt sie auf die Wasserlache am Boden. «So könnt ihr nicht ins Wohnzimmer.» Sie presst die Lippen zusammen und deutet auf die Küche, die mit weissen Platten belegt ist.

      Wir streifen unsere Schuhe ab und folgen ihr. Julie trippelt auf Zehenspitzen. Die Spur, die sie auf dem Boden hinterlässt, sieht aus, als stamme sie von einem Vogel. In einer Fensternische steht ein Glastisch mit vier weissen Lederstühlen. Ich will mich schon setzen, da stoppt mich Mam. Sie holt weitere Tücher und breitet sie auf den Stühlen aus. Julie traut sich trotzdem nicht, sich hinzusetzen.

      «Warst du beim Arzt?», fragt Mam.

      Ich verneine.

      «Hör auf zu nuscheln! Ich verstehe kein Wort!»

      «Nein», wiederhole ich und erzähle ihr vom Tramunfall.

      «Ihr seid einfach abgehauen? Christopher! Wann wirst du endlich erwachsen? Was glaubst du, wie die Versicherung reagieren wird, wenn du die Arztrechnungen einschickst?»

      Ich gucke wohl ziemlich komisch, denn sie seufzt laut. «Bei jedem Unfall muss der Verursacher eruiert werden. Sonst ist nicht geklärt, wessen Versicherung für den Schaden aufkommen muss. Halt still.»

      Ich japse laut, als sie in meinem Gesicht herumdrückt.

      «Gebrochen», sagt sie. Aus dem Gefrierfach holt sie einen Eisbeutel und drückt ihn mir auf die Nase.

      Vor Schmerzen sehe ich Sterne. Dabei dachte ich immer, das sei nur eine Redensart.

      «Viel machen kann man dagegen nicht», erklärt sie. «Ich kann das Nasenbein gleich hier richten, dafür brauchst du keinen Spezialisten. Bis der Knochen zusammenwächst, wird es aber einige Wochen dauern.»

      Julie steht immer noch mitten in der Küche und schaut mit offenem Mund zu. Ihre Schminke ist verschmiert, doch sie merkt es nicht. Die schwarze Farbe unterhalb ihres linken Auges sieht dramatisch aus.

      Bevor ich etwas sagen kann, nimmt Mam den Eisbeutel weg und beugt sich über mich. Auf einmal jagt ein Stromstoss durch meinen Körper. Der Schmerz ist so heftig, dass ich wie gelähmt im Stuhl hänge. Diesmal sehe ich keine Sterne. Es wird schwarz um mich herum. In meinem Kopf pocht es, als spiele drin eine Heavy-Metal-Band.

      Mam klebt mir ein dickes Pflaster auf die Nase. Ich frage nicht, warum. Ich will die Augen schliessen, habe aber Angst, dass mir das Augenwasser überlaufen könnte.

      Mam starrt gedankenversunken auf meine Nase. Mir fallen die tiefen Falten neben ihrem Mund auf.

      «Du bist deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten», sagt sie leise.

      Kein Wunder, denke ich. Er hat sich die Nase schon drei Mal gebrochen. Allerdings nie bei einem Tramunfall, sondern zwei Mal beim Kickboxen und ein Mal bei einem Polizeieinsatz. Vielleicht muss ich mir eine coole Geschichte ausdenken, falls mich jemand auf das Pflaster anspricht. Ich könnte zum Beispiel erzählen, dass ich mich verletzt hätte, als ich meine Schwester befreite. Das wäre nicht einmal gelogen.

      «Ich habe ihn in der Notaufnahme kennengelernt», sagt Mam.

      «Wen?», murmle ich.

      «Deinen Vater. Ich habe ihm das Nasenbein gerichtet, genau wie dir. Er war nur wenige Jahre älter, als du es jetzt bist.»

      Mich erstaunt, dass er sie danach überhaupt wieder sehen wollte.

      Julie zieht die Augenbrauen in die Höhe und zeigt auf ihr Handgelenk. Es dauert einen Moment, bis ich kapiere, was sie mir zu sagen versucht. Die Zeit läuft uns davon.

      «Mam», beginne ich.

      «Wie geht es ihm?», fragt sie.

      «Wem?»

      «Deinem Vater.»

      «Gut. Hör mal, ich habe eine …»

      «Gut? Was heisst das? Ist er noch mit dieser Tussi zusammen? Fällt sie immer noch auf seinen Charme herein? Oder hat sie endlich gemerkt, dass nichts dahintersteckt?»

      «Kannst du mir Geld leihen?»

      «Wie bitte?»

      «Ich brauche Geld.»

      Mam fährt herum. «Bist du schwanger?», fährt sie Julie an.

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