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in die Endhaltestelle ein. Das Tram wartet schon. Bevor ich einsteige, zünde ich mir noch eine Zigarette an. Es ist kein guter Zeitpunkt, um ans Aufhören zu denken. Ich kann nur eine Herausforderung aufs Mal bewältigen. Mein Magen knurrt erneut, doch nach Essen ist mir nicht.

      Die Türen des Trams gehen zu. Das Licht hinter der Fahrerkabine beginnt zu blinken. Rasch lasse ich die Zigarette fallen und laufe los, doch es ist zu spät. Das Tram fährt mir direkt vor der Nase ab. Ich bücke mich, um die halbgerauchte Zigarette aufzuheben, doch sie ist in eine Pfütze gefallen und erloschen.

      «Gsehne d lüüt, wie si ränned, trotzdem sind si z spat.» Ich schliesse die Augen und höre Phenomden zu. Seine Stimme trägt mich weit weg, irgendwann hört mein Herz auf, wie irre zu hämmern.

      Mit einem Quietschen fährt das nächste Tram ein. Diesmal warte ich drinnen, bis es losfährt. Hinter mir hievt eine Frau einen Kinderwagen hinein. Sofort bricht mir der Schweiss aus. Ich schliesse wieder die Augen.

      Leo schläft noch, als ich klingle. Das ist ungewöhnlich. Meistens muss er am Wochenende für seinen Vater Sachen ums Haus herum erledigen oder seine Schwester irgendwohin begleiten. Julie ist zwar schon 16, trotzdem darf sie nicht alleine weg. Sie öffnet mir die Tür und bittet mich herein. Sie sieht ein bisschen wie ein Kolibri aus, nicht nur wegen der pinkfarbenen Haarsträhne und dem gelben Pullover. Ihre Bewegungen sind ruckartig, und wenn sie spricht, beendet sie ihren Satz immer einige Töne höher, als sie ihn begonnen hat. Nur ihre Hände sind ruhig. Seit sie ins Gymnasium geht, kaut sie nicht mehr auf ihren Fingernägeln herum.

      «Willst du etwas trinken?», zwitschert sie. «Leo wird gleich aufstehen. Wir wollten zusammen in die Stadt. Ich brauche Stoff für ein Kleid. Hat er es dir schon erzählt? Sag mal, was ist eigentlich mit dir passiert? Bist du in eine Pfütze gefallen?»

      Ich brauche nicht zu antworten, sie wird auch so weiterreden. Ich folge ihr in die Küche, wo sie mir ein Glas Cola einschenkt.

      «Er macht bei einem Tanzevent mit! Deshalb wurde es gestern so spät. Leo und Nic üben die ganze Zeit, es ist absolut wahnsinnig! Und ich nähe die Kleider, die sie tragen werden. Wenn du mir vor …»

      Ich blende ihre Stimme aus. Draussen vor dem Küchenfenster strömt der Regen herunter, eine richtige Wasserfront. Nachdem ich das Glas Cola geleert habe, gehe ich zu Leos Zimmer. Ich stosse die Tür auf, ohne anzuklopfen. Hinter mir feuert Julie so viele Wörter aufs Mal ab, dass sie sich in meinen Gehirnwindungen verfangen.

      Die Rollladen sind nicht ganz zu. Im schwachen Licht sehe ich Leo, der schläft wie ein Stein. Trotzdem bewegt er sich dauernd. Das liegt wohl in seiner Familie, wie Geschichten in meiner. Mein Blick fällt auf die XBox, die in einer Ecke steht. Früher haben wir ganze Nächte lang durchgezockt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er jetzt lieber tanzt. Daran ist Nicole Schuld. Sie will Balletttänzerin werden, deshalb trainiert sie dauernd. Vermutlich muss Leo mittanzen, wenn er mit ihr zusammen sein will, für etwas anderes hat Nic keine Zeit. Ausser Leo kenne ich keinen einzigen Shipi, der tanzt. Ich meine, richtig tanzt, mit Schritten und so. Früher hat er Basketball gespielt.

      Sogar die albanische Flagge in Leos Zimmer ist weg. Sie hing an der Wand, genau gegenüber dem Bett. Der doppelköpfige Adler hat mir immer gut gefallen. Für die Cherokee sind Adler auch wichtig. Federn stellen Dualität dar. Was das genau bedeutet, begreife ich nicht ganz. Es hat damit zu tun, dass das Leben aus Gegensätzen besteht. Wie Licht und Schatten. Eine Adlerfeder ist auf einer Seite hell und auf der anderen dunkel. Gegensätze gehören also zusammen. Daraus leiten die Cherokee Gesetze ab. Mein Vater könnte sie mir erklären, aber wenn ich sie nicht sofort kapiere, wird er sauer.

      Leo dreht sich schon wieder. Ich trete an sein Bett und schüttle ihn. Er murmelt etwas und wendet sich ab.

      «Wach auf, Shipi!»

      «Chris?» Groggy öffnet er die Augen. «Was machst du hier?»

      «Ich brauch deine Hilfe.»

      «Geht’s auch etwas später?»

      «Nein.»

      «Scheisse, Mann.» Leo stemmt sich hoch, als wiege er eine Tonne. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Normalerweise hat er den Popcorn-Modus drauf. Er ist da, pop, und schon ist er woanders. Statt aufzustehen, rutscht er jetzt zur Bettkante und stützt die Ellenbogen auf die Oberschenkel. Mit den Handballen reibt er sich die Augen. Vielleicht ist er krank.

      «Schiess los», brummt er.

      «Ich brauche 960 Franken.»

      Ich erzähle ihm von Lily.

      Plötzlich sieht er nicht mehr müde aus. Ungläubig öffnet er den Mund. Kurz darauf geht er im Zimmer auf und ab. «Sie war einfach weg? Du meinst … so, als hätte jemand ‹Delete› gedrückt?»

      Leo ist Informatiker. Er mag Computerbefehle. Eigentlich mag er alle Befehle. Hauptsache, er erteilt sie. «Dieser Wichser!», zischt er. «Das macht doch keiner! Mädchen sind tabu! Babys erst recht! Ich kenne niemanden, der so etwas machen würde!»

      «Er ist keiner von uns», erkläre ich.

      «Sondern?»

      «Ein Russe. Aus Deutschland.» Mir bleibt fast der Atem weg, als ich an den Typ denke. «Eine Klapperschlange.»

      Die ganze Sache begann harmlos. Fürs Reggae-Festival im «Gaskessel» sollte ich Gras besorgen, da ich die besten Kontakte habe. Zuerst waren wir nur zu viert, drei Kollegen von der Berufsschule und ich, die nach Bern fahren wollten. Als sich herumsprach, dass Jojo, ein Drittjahr-Kochlehrling, günstig Tickets besorgen konnte, waren wir plötzlich eine ganze Truppe. Alle mit Gras zu versorgen, war mir zu heiss. Ich bin kein Dealer. Wir beschlossen, dass Jojo die Hälfte übernehmen würde.

      Dann erfuhr ich, dass er sich in Winterthur bei einem Typen eindecken wollte, den ich von früher kannte. Der Typ hatte mich vor zwei Jahren mit Outdoor-Gras verarscht, das er befeuchtet hatte, damit es schwerer wurde. Mein Dealer verkauft mir nur gute Qualität. Als ich erfuhr, dass Karim super Ware hatte, liess ich mich dazu überreden, alle zu versorgen. Ich holte das Gras letzte Woche ab und bezahlte meinen Anteil. Wir vereinbarten, dass mir meine Kollegen morgen Abend am Festival die Ware bezahlen würden. Für Karim war es in Ordnung, dass ich ihm das restliche Geld am Montag geben wollte.

      Aber dann rief Karim vorgestern an. Er sagte, er brauche das Geld sofort. Irgendetwas sei schief gelaufen. Keine Ahnung, was. Als ich ihm erklärte, dass ich die acht Lappen nicht hätte, drohte er mir. Ich fürchtete, er könnte bei mir einbrechen, um sich das Gras zurückzuholen. Einem Bekannten wurde die ganze Wohnung ausgeräumt, weil er seine Schulden nicht bezahlt hatte. Mein Vater weiss nicht, dass ich kiffe. Ausserdem bin ich seit einer Einbruchstour auf Bewährung. Neuen Ärger kann ich mir nicht leisten. Ich musste mir etwas einfallen lassen.

      Hier kommt die Klapperschlange ins Spiel. Ich kannte den Russen nur vom Hörensagen. Er ist noch nicht lange in der Schweiz. Sein Vater hat irgendetwas mit Clubs zu tun. Der Russe geht noch in die Schule, trotzdem hat er immer Geld. Es hat sich schnell herumgesprochen, dass er damit Geschäfte macht. Nicht nur das hat sich herumgesprochen. Man sagt auch, dass er ziemlich skrupellos sei.

      Wir trafen uns am Bahnhof. Als mir ein kleiner Typ mit Stupsnase auf die Schulter klopfte, begriff ich zuerst nicht, dass es der Russe war. Er sah etwa so gefährlich aus wie eine ungewaschene Socke. Das Geld hatte er dabei. Ich nahm es, weil mir nichts anderes übrigblieb. Ich redete mir ein, dass er harmlos sei. Dabei schlief die Schlange nur.

      «Warum stresst er plötzlich so?», will Leo jetzt wissen. «Du kriegst dein Geld morgen am Festival!»

      «Er hat gesagt, er wolle es innerhalb von 24 Stunden zurück. Mit zehn Prozent Zins. Das war gestern Abend.»

      Leo tigert immer noch hin und her.

      Ich merke, dass er nichts kapiert. «Ich dachte, das sei nur Gerede!», erkläre ich. «Dass Montag auch okay wäre.»

      «Und dann?»

      «Gestern Abend hat er angerufen. Da begriff ich, dass es ihm ernst war. Ausserdem waren es plötzlich nicht mehr 880 Franken, sondern 960. Er will zehn Prozent für

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