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Mit der Zeit war daraus eine regelrechte Besessenheit geworden. Wenn man den Geschichten glauben konnte, wimmelte es in England nur so von schaurigen Wesen: kopflose Reiter, weiße Frauen, geisterhafte Mönche und Nonnen, geifernde Dämonenhunde mit glühend roten Augen – sie spukten überall herum! Also hielt Aveline immer die Augen offen, nur für den Fall.

      Und Stormhaven wirkte genau so, wie man es von einem verspukten Ort erwartete: stürmisches Wetter, alte Häuser, das graue Meer, das sich zu bedrohlichen Wogen auftürmte. Und vor allem diese unheimliche Leere, die Gespenster besonders anzieht. Es konnte kein Zufall sein, dass sie mit Vorliebe in windgepeitschten Mooren, verlassenen Klöstern und zerfallenen Burgruinen herumgeisterten, davon war Aveline überzeugt. Aber sie wollte keinen Streit mit ihrer Mutter, daher beschloss sie, ihre Gedanken für sich zu behalten – und auf der Hut zu sein.

      Es dauerte nicht lange, bis sie das Ortszentrum erreicht hatten. Die funkelnden Lichterketten vor dem Strandhotel sollten für eine einladende Stimmung sorgen, doch Aveline sah, dass der gelangweilt wirkende Barkeeper hinter dem Fenster offenbar ohne Kundschaft auf einen Flachbildschirm starrte. Für die Fish-and-Chips-Bude nebenan schien das Geschäft ein klein wenig besser zu laufen, obwohl sich auch hier mehr Möwen als Kunden versammelt hatten. Ein Junge mit dunklen Haaren saß davor auf einer Bank und las in einem Buch, das er mit einer Hand hielt, während er sich mit der anderen Pommes in den Mund stopfte.

      Als er aufschaute und den Blick von Aveline auffing, die ihn aus dem Auto heraus beobachtete, hielt er, die Hand auf halbem Weg zum Mund, mitten in der Bewegung inne. Aveline spürte, wie sie rot wurde, und blickte rasch zur Seite. Immerhin wusste sie jetzt, dass es hier zumindest eine weitere Person in ihrem Alter gab.

      »So, Lilian wohnt gleich da vorn«, sagte Avelines Mum, als sie aus dem Kreisverkehr auf eine Straße bog, die direkt am Strand entlangführte.

      Zu ihrer Linken brachen sich die Wellen an einem Felsen, explodierten zornig zu Gischt und schwappten über den steinigen Strand. Etwas weiter vorn ragte die Hafenmauer wie ein Tentakel aus Beton ins Meer und am Kai vertäute Fischerboote tanzten im Schutz der Bucht auf den Wellen. Neben ihnen war die Straße von gemütlich aussehenden Fischerhäusern gesäumt, die alle in verschiedenen Pastelltönen gestrichen waren. An den Einfahrten und Türen der Häuser hingen alte Bojen, die aussahen wie große Plastikweintrauben. Die Lichter hinter den Fenstern strahlten einladend orange und golden und zum ersten Mal seit ihrer Abreise dachte Aveline, dass es in Stormhaven vielleicht doch nicht so schlimm wie befürchtet werden würde.

      Aus einiger Entfernung, vor dem Cottage am Ende der Häuserreihe, sah ihnen jemand entgegen. Es schien ein weiterer Junge in Avelines Alter zu sein. Er lehnte an der Mauer, allerdings in einer ungelenken Position, so als wäre er zusammengesackt und würde sich nicht aus eigener Kraft aufrichten können. Irgendetwas an ihm war seltsam – seine Haut war zu blass, seine Haare zu trocken und strohig. Alles in allem sah er aus, als würde er an einer schrecklichen Krankheit leiden.

      »Glaubst du, mit ihm ist alles in Ordnung?«, fragte Avelines Mum.

      Aveline antwortete nicht. Sie hatte dieses Gefühl, das sie immer überkam, wenn etwas nicht stimmte. Es war so ein kaltes Prickeln im Nacken und sie spürte es immer, wenn sie an einem verlassenen Haus mit vernagelten Fenstern vorbeikam oder nachts im Bett eine Gruselgeschichte las. Es war das untrügliche Zeichen dafür, dass etwas ganz und gar nicht so war, wie es sein sollte. Dass vielleicht irgendwo, verborgen in den Schatten, etwas lauerte.

      Inzwischen waren sie näher gekommen, aber der Junge hatte sich noch immer nicht bewegt. Das Auto wurde langsamer. Wie zwei neugierige Eulen drehten Aveline und ihre Mum die Köpfe, um die merkwürdig starre Gestalt anzusehen.

      Tote Augen starrten ihnen entgegen.

      Das fratzenhafte Grinsen eines Clowns, die Mundwinkel höhnisch nach oben gezogen.

      Der Kopf der Gestalt bestand aus einer schmuddeligen weißen Boje, auf die mit roter Ölfarbe Augen, Nase und Mund gemalt waren. Ihre Glieder waren deshalb so steif, weil sie von einer alten Schaufensterpuppe stammten. Auf dem Kopf saß ein schwarzer Stoffhut, unter dem eine grelle rote Perücke hervorquoll, und sie trug Kleider, die aussahen wie aus dem Secondhandshop – eine zerschlissene, viel zu große Jacke, die ihr bis über die Knie hing, darunter eine Hose voller Farbkleckser.

      Aveline verzog das Gesicht. »Pff, nicht zu fassen, dass wir darauf reingefallen sind! Was soll das überhaupt sein?«

      Ihre Mum zuckte mit den Schultern. »Eine Halloweendekoration, nehme ich an. Ich würde so was nicht in meinen Garten stellen, da bekommt man ja Albträume.«

      Sie fuhren weiter. Aveline drehte sich noch einmal um und blickte über die Schulter zurück, denn aus irgendeinem Grund konnte sie sich kaum vom Anblick der schauderhaften Puppe losreißen. Vielleicht hatte sie jemand für eine Art Wettbewerb gebastelt? Falls es so war, überlegte Aveline, hatte diese Schreckfigur bestimmt keinen Preis gewonnen – außer vielleicht eine Auszeichnung für die scheußlichste Vogelscheuche aller Zeiten.

      Tante Lilians Haus befand sich ein Stück weiter in einer Nebenstraße. Es war ziemlich alt, das sah man auf den ersten Blick. Einige Gebäudeteile waren offenbar renoviert worden, sodass Alt und Neu zu einem eigenwilligen Ganzen verschmolzen. Die Wände waren weiß verputzt und die Fensterrahmen ozeanblau gestrichen, auch wenn die Farbe hier und da verblasst oder abgeplatzt war. Aus dem Kamin kringelten sich kleine Rauchwölkchen, die vom böigen Wind fortgerissen wurden. Durch einen Spalt zwischen den Vorhängen bellte ihnen ein kleiner, offenbar sehr aufgebrachter Hund entgegen.

      Sie klopften. Sekunden später öffnete ihnen Tante Lilian. Ihre Silhouette ragte im Türrahmen auf wie ein schwarzes Kreuz und hinter ihr kläffte der kleine Terrier unermüdlich weiter.

      »Ach, sei still, Charlie, die beiden kommen in Frieden«, ermahnte ihn Tante Lilian. »Ich hab mich schon gefragt, ob euch was zugestoßen ist. Hatten wir nicht drei Uhr gesagt?« Sie blickte auf die Uhr, wie um zu betonen, welche Unannehmlichkeit die Verspätung ihrer Gäste für sie darstellte.

      Aveline kam sich vor, als wäre sie zu spät in eine Unterrichtsstunde geplatzt.

      »Tut mir leid, Lilian, wir sind hinter Bristol in eine Baustelle geraten«, erklärte Avelines Mum. »Das Wetter war auch nicht gerade günstig, wie du dir denken kannst. Bei Regen geht ja immer alles ein bisschen langsamer voran.«

      Die beiden Schwestern umarmten sich. Man konnte die Familienähnlichkeit zwischen ihnen auf den ersten Blick sehen, aber was ihre Statur anging, hätten sie nicht unterschiedlicher sein können. Tante Lilian schien nur aus Knochen und Kanten zu bestehen und ihre Haare waren zu einem straffen Knoten zurückgebunden. Avelines Mum hatte weiche Züge, ihre Haare umspielten ihr Gesicht mit sanften Locken. Hart und weich, dachte Aveline und fragte sich, wie es sein konnte, dass die Schwestern so viel gemeinsam hatten und doch so unterschiedlich waren.

      »Ah, Aveline! Wie geht es dir?«, fragte Tante Lilian.

      »Gut, danke«, murmelte Aveline.

      »Na, dann komm her und lass dich drücken!«

      Die Umarmung fühlte sich an, als würde sie ihre Arme um einen der knorrigen, verwachsenen Bäume schlingen, die auf der Fahrt an den Fenstern vorbeigezogen waren.

      Nach der Begrüßung hielt Tante Lilian Aveline auf Armeslänge von sich, musterte sie und drückte ihre Schultern, als wäre Aveline eine Grapefruit im Supermarkt. »Du bist gewachsen«, stellte sie fest.

      Aveline war sich nicht sicher, ob das stimmte. Sie war noch immer eine der Kleinsten in ihrer Klasse und im Vergleich zu einigen ihrer großen, sportlichen Mitschüler fühlte sie sich eher wie ein knubbeliger, kleiner Gartenzwerg. Trotzdem freute sie sich über Tante Lilians Worte. Das war eine weitere von Tante Lilians Eigenarten: Mit ein paar wenigen Worten schaffte sie es, dass ihr Gegenüber sich entweder wie im siebten Himmel fühlte – oder wie etwas Ekliges, das sie gerade von der Schuhsohle abgestreift hatte.

      »Bring

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