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      Winfried Klose

      Ohne Fluchtpunkt 2

      In der Tauschgesellschaft

      13 Augenblicke des Bodenlosen

      © 2020 Winfried Klose

      Layout: Christian Manhart

      Titelbild: Francisco José de Goya y Lucientes – Der Schlaf der

      Vernunft gebiert Ungeheuer (aus Los Caprichos),

      Quelle: UtCon Collection / Alamy Stock Foto

      Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

      ISBN

      978-3-347-06487-4 (Paperback)

      978-3-347-08728-6 (e-Book)

      Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

      Für Kurt Lenk, der mir Mut zusprach,

      bestimmte Erzählungen

      mit soziologisch-philosophischen Fragestellungen

      zu grundieren.

      Die dreizehn Erzählungen, Augenblicke des Bodenlosen, sind Blicke auf ein falsches Leben. Die Protagonisten der einzelnen Texte sind meist der Schicht der Bildungsbürger zuzuordnen. Einige der Figuren sind dabei, sich von der Ideologie der Leistung und materiellen Sicherheit loszusagen, stehen für einen Moment an einem Wendepunkt: einer eigenen Wahl, einem verdrängten Lebenswunsch, einer erkannten Schuld. … Sie scheitern meist an Normen der globalen Tauschgesellschaft, die in einzelne der Warenform scheinbar enthobene Bereiche, wie Kunst, Musik, Ethik, … vordringen, alle Werte einebnen, ebenso Sprache, Psyche und Zusammenleben der Menschen tangieren und sie an der Entfaltung zu selbstverantwortlichen Subjekten hindern. – Mit ihrem Scheitern in entscheidenden Situationen wird die Identität einzelner Figuren in Frage gestellt. Vor der gleichen Frage steht der Leser. Gelingt es ihm, in der Welt der Erzählungen Fuß zu fassen, sieht er sich mehr oder weniger beschädigten, gleichwohl achtbaren Individualitäten gegenübergestellt. Da einzelne Episoden im Widerspruch zueinander stehen, keineswegs einer zu einem Ziel führenden Handlung folgen, vermag der Leser eigene Mutmaßungen über ein Davonkommen oder Scheitern der Protagonisten anzustellen.

      Inhalt

      Von Anfang an

      Nirgendwohin

      Die Gleichgültigen

      Freier Fall

      Abstieg

      Räsonnement

      Ohne zu suchen

      Versäumnis

      Der Wurf

      Verlorene Wünsche

      Mummenschanz

      Marokko-Disneyland

      Ohne Fluchtpunkt

      Von Anfang an

      „Das Visier ohne Widerschein, im Helm fängt sich das leise Summen, die Tachonadel pendelt ruhig – selbst vor und nach Kurven, nicht ganz das Maximum für diese Strecke. Ich bleibe hinter Gerard – leicht versetzt, hätte an ihm in einigen Kurven leicht vorbeiziehen können. Auf die Schwingungen der Straße antwortet eine reflexartige Reaktion, sich zu verlagern und zu schalten, zu schalten und sich zu verlagern – immer im Fluss. Mein Blick kontrolliert die Straße, ich zähle die weißen Streifen in der Mitte, die ein elektronisch gesteuertes Fahrzeug in der Nacht auf die Fahrbahn aufgetragen hat. – Unwägbarkeiten auf der Fahrbahn – brüchiges Bankett zieht vorbei, Geröll deutet auf Steinschlag – können mein Zählen nicht unterbrechen, ich bin jetzt bei 517, das Zählen ist mein Herzschlag.

      Nach einer Kurve gerät Gerard doch noch ins Schleudern, touchiert eine Felswand mit dem Vorderrad, tariert den Schlenker in einer Rinne aus, die Fahrt zu stabilisieren… Blinker, Gerard rollt langsam auf das mit braunen Nadeln beworfene Bankett, reißt sich den Helm vom Kopf. Wir staksen zur Kurve zurück – mit kalten Knien, es ist sehr heiß. Gerard kniet neben einem weißen Mittelstreifen, kann weder Öl noch eine Spur Sand aufnehmen. Ich starre – kann nicht zuschauen – auf die wimmelnde Fahrbahn. Ich würde nicht mehr mit Gerard unterwegs sein.

      Solange ich auf der Maschine allein unterwegs bin, füllt mich die Perspektive als Biker aus, erweitert meine Sicht. Zu nichts habe ich dieses innige Verhältnis, die Maschine hebt mich über die Hügel, auf sie ist Verlass, einem dieser großen Vögel gleich durchschwebe ich die Landschaft. – Dann hatten sie begonnen, mich zu jagen. Verfolgt sehe ich mich von außen.“

      Die Strecke zum Meer war früh vor fünf Uhr kaum befahren. Jean war allein unterwegs, sehr schnell: All die Abzweigungen, Erkundungswege entlegener, oft aufgegebener Pfade, Schneisen, trocken gefallener Bäche, Sumpfzonen, Furten… zogen vorbei. Jean kannte mittlerweile die gesamte Region um Collobrières besser als die Waldarbeiter. Die Flics waren nur auf den Straßen zuhause.

      Das Massif de Maures, Teil der apulischen Platte, gilt als ein bizarr zerklüfteter Gebirgsstock, nur wenige Straßen verbinden Orte. Plattentektonik hat Granite und anderes Tiefengestein hochgestemmt, vielfach bewegt, zerbrochen und weiter aufgetürmt; die drei großen Rücken zum Meer hin sind mehrfach zerklüftet und schwer zugänglich; jähe Schluchten, Felstrichter, Abbrüche und tief eingeschnittene Bachläufe erschweren eine Durchquerung auch nur eines Teilgebietes. Allzu oft muss der Eindringling Umwege auf schmalen Graten suchen. – Große Temperaturunterschiede, Gewitter und Feuersbrünste verändern einzelne Bereiche bis zur Unkenntlichkeit, verheert ragen dann schwarze Klippen und Gestumpf in den Himmel. Gleich daneben überwuchert Macchia und Garriquesvegetation Pfade und Steige, verwehrt jedes Vordringen.

      Später hatte Jean die Karte im Kopf, auf der unzählige Fluchtwege eingetragen waren; sie mussten ständig abgefahren werden; als sei er verfolgt, auf der Flucht, durchraste er Bachläufe, übersprang kleine Schluchten, kannte die präparierten Stellen für die Landung. Niemand konnte ihm folgen, auf der Ducati war er kein Biker, war er Gejagter, der alle hinter sich ließ, auf der Ducati gab es überall ein Durchkommen, durch Macchia, Schluchten, Felsspalten, Baumkronen, er hob ab, wie wenn die laute Musik immer wieder Tore vor ihm aufstieß, immer neue Tore, mit Fanfaren in das Azurblau, am Ende blieb der ganz große Sprung…

      „In dieser Phase der Ausritte bleiben die Strecken begrenzt, werden durchflogen. Es ist schon Märzlicht, ich atme – an Halstuch und Haaren zerrt Wind – volle Luft, ein Auftanken für den Aufbruch. Ich registriere kein Gefühl, mag nicht die Arme ausbreiten, mich aufrichten, die Maschine aufbäumen. Die zweite Haut gibt mir Halt, hält zusammen, zügelt, etwas freizulassen. Finger, Arme, Schultern, Kopf… alles ist gerichtet, nur von der Maschine kommt etwas zurück, die bewältigt die Strecke, nicht nur auf Schenkeldruck, dazu gehört das Einschätzen der Steigung, des Gefälles, das ritualisierte Zucken des linken Fußes, Schalten wie im Traum – an der entscheidenden Stelle, und die abgerufene Kraft muss im gleichen Moment ziehen, wegziehen, genauso entscheidend das leichte Anbremsen und Loslassen – von 1000 Hufen, mit dem Hinterrad auf dem Asphalt zu haften… Bei der Geschwindigkeit jetzt ist die Ausrichtung jedes Körperteils unerlässlich, das Zusammenspiel der Teile überträgt sich auf die Maschine, die nun – in schwerem Gelände – tänzelt, in den Stoßfängern schwingt, sich verwindet, bockt… Querfeld ist die Lenkung Drehpunkt fürs Durchkommen, alles ist auf die Lenkung abgestimmt, und der Blick auf den Boden zoomt heran, sondiert, entscheidet über Sand, Geröll, lose Steine, Nässe, Untiefen… Zum Registrieren, Abrufen, Greifen, Zucken, Verlagern kommt das Spiel des Abschüttelns, Verhoffens, Hinter-sich-Lassens, In-die-Irre-Führens, des Mitnehmens – in den großen Sprung, in den einen die Euphorie hebt, ohne auf einen Gedanken, ein Hindernis zu treffen, alles gleich gültig, hier ist dann drüben – und drüben hier…“

      Die Herrschaft über Maschine und Raum musste bestätigt werden, Jean musste gejagt werden, wusste Cécile. Bei den großen Jagden war Jean in dem Planquadrat Collobrières – zwischen Autobahn und Küstenstraße – geblieben, hatte sich nicht abdrängen

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