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Sie doch leicht fliehen können – oder?“

      „Nein. Der Letzte, der ging, hat im Parterre und im ersten Stock alle Rollläden heruntergelassen und alle Türen nach draußen elektrisch verriegelt. In der ersten Woche habe ich tagelang im Dunkel gesessen, bis einer der beiden zurückkam.“

      „Telefon gab es nicht?“

      „Nein. Und mein Handy hatten Sie mir am ersten Tag weggenommen und vor meinen Augen zertreten. Außerdem wusste ich monatelang nicht, wo ich war. Weit und breit keine Häuser, auch keine Straße. Waren Sie schon mal so gefangen?“

      „Ja“, sagte Lene zögernd, die sich nicht gern daran erinnerte.

      „Zum Glück hatten meine Entführer das Wasser und den Strom für Fernseher und Radio nicht abgestellt. Aber ich war fast verhungert, als meine Kollegen mich endlich gefunden haben.“

      „Scheußlich“, kommentierte Meike mitleidig.

      „Wie war das bei Ihnen?“

      „Der Kühlschrank war immer gut gefüllt. Aber ich habe mich lange nicht getraut, mir was zu kochen.“

      „Und warum nicht?“

      „Ich hatte und habe eine wahnsinnige Angst vor Feuer. Ich wäre in dem verschlossenen Haus wohl bei lebendem Leibe gegrillt worden. Türen und Fenster waren ja fest verschlossen.“

      „Und wenn Sie mal was brauchten, Wäsche, was zum Anziehen oder Medikamente?“

      „Habe ich das abends gesagt und am nächsten Tag hat mir einer etwas mitgebracht.“

      „Zum Bespiel?“

      „Die Pille etwa.“

      „Apropos Pille, waren Sylvia und Malte eigentlich ein intimes Paar?“

      „Nein, glaube ich nicht. Sie kannten sich gut, aber ich glaube nicht, dass sie miteinander geschlafen haben. Aber dann muss was passiert sein – man spürte förmlich, wie es zwischen den beiden knisterte. Warum, das weiß ich allerdings nicht. Und danach verschwand sie. Am Tage danach haben Malte und ich zum ersten Mal miteinander geschlafen.“

      „Ihre erste sexuelle Erfahrung?“

      „Ja. Es war toll. Unvergesslich. Und zwei Tages später ist ein Mann mit einem VW-Bus gekommen und hat Sylvia abgeholt und ihre Sachen mitgenommen. Malte hat ihn noch gesehen, und nur gemeint: ‚Mit Uwe ist sie ja bestens versorgt. Mehr hat sie auch nicht verdient.‘“

      „Malte kannte also diesen Uwe?“

      „Ja.“

      „Könnten Sie auch von Sylvia ein Phantom anfertigen?“

      „Ja. Ich hatte an dem Tag, an dem Sylvia auszog, das komische Gefühl, dass sie sich alle drei eigentlich gut kannten.“

      „Woher – das wissen Sie nicht?“

      „Nein, Malte hat Uwe und Sylvia nie mehr erwähnt.“

      Lene holte tief Luft: „Frau Stumm. Haben Sie abends mal ferngesehen?“

      „Ja.“

      „Welches Programm?“

      „Entweder das Landesprogramm Leiningen oder SWR Baden Württemberg.“

      „Sehr gut.“

      „Frau Schelm. Ich würde jetzt gerne gehen. Ich habe einen Termin bei „Cosimo“, um diese scheußliche Farbe aus den Haaren zu bekommen und mir von ihm eine ordentliche Frisur verpassen zu lassen. Ich komme dann später wieder. Einverstanden?“

      „Natürlich. Es gibt keinen Grund, Sie hier zurückzuhalten.“

      „Prima. Dann biete ich Ihnen an, dass ich gleich nach „Cosimo“ zurückkomme, wenn wir noch nicht fertig sein sollten.“

      „Einverstanden. Wir werden uns Fotos anschauen müssen, und Sie wollen versuchen, Phantombilder herzustellen, von Malte und Uwe. Und von Sylvia.“

      „Hab ich nicht vergessen. Kann ich Vera so lange bei Ihnen lassen?“

      „Klar. Ich sage nur meiner Kollegin Bescheid, dass sie frischen Kaffee kocht.“

      „Danke.“

      Meike zwickte sich in die Ohrläppchen: „Frau Schelm, ob ich wohl noch einen Kaffee bekommen könnte, bevor ich zu Cosimo abzische?“

      „Na klar. Bin gleich wieder da.“

      Mia hatte nebenan wohl gut zugehört; denn als Lene hereinkam, füllte sie schon gemahlenen Kaffee in die Filtertüte: „Das ist ja eine richtige Räuberpistole, Chefin.“

      „Ja, und ich habe so ein Gefühl, die dicksten Hämmer kommen noch.“

      Mia brachte ein paar Minuten später eine Thermoskanne herein.

      „Danke für den Kaffee.“

      „Bitte, bitte.“

      „So, und nun möchte ich Cosimo nicht länger auf Sie warten lassen.“

      Lene hatte ihren Kaffee langsamer getrunken und vorerst nichts mehr gefragt. „Bis nachher dann.“ Man musste nicht alles glauben, was man in einem Polizeipräsidium oder auf einem Revier zu hören bekam, war aber auch nicht verpflichtet, alles grundsätzlich für gelogen oder gezielte Irreführung zu halten. Außerdem hatte Lene keinen Grund, Meike Stumm vorzuladen und amtlich zu befragen. Sie war weder eine Zeugin, noch eine Beschuldigte oder Verdächtige. Und die amtliche Auferstehung von den amtlich für tot Erklärten war auch nicht Lenes Aufgabe. Darum sollten sich ein Rechtsanwalt der Familie und der Staatsanwalt kümmern. Lene musste Meike Stumm bei Laune halten, damit die freiwillig weiter aussagte. Sie sollte also ein Vertrauensverhältnis herstellen.

      Sie verabredete sich mit dem Tom Heilmann, der an dem elektronischen Puzzlegerät für Phantombilder brillierte und auch die Lichtbildersammlung des Präsidiums verwaltete. Er besaß das – wie Lene es nannte – peinliche Gedächtnis: Er vergaß nie eine Gesicht, aber oft den Namen der Person auf dem Foto. Er war tüchtig, aber auch selbstbewusst.

      Heilmann maulte auch prompt: „Gleich zwei oder drei, Frau Schelm?“

      „Die Zeugin ist um die dreißig, sieht sehr gut aus, ledig, hat eine kleine Tochter, die aus dem Gröbsten schon raus ist, nachts durchschläft, und stammt aus einem reichen Elternhaus. Welche Chance für einen jungen, ledigen, attraktiven Landesbeamten mit Aufstiegschancen.“

      „Sie schrecken auch vor nichts zurück, was?“

      „Sie haben mich durchschaut.“

      Lene lud die Akte „Vermisst – Meike Stumm“ auf den Bildschirm und telefonierte mit Staatsanwalt Jürgen Sandig: „Sie müssen eine nur amtlich Tote wieder zum Leben erwecken.“

      „Wie schön, dass Sie mir das zutrauen. Bitte in Stichworten wen, warum und wann? Bei Gelegenheit dann mündlich ausführlich.“ Sandig war jung, eifrig und trat irgendwie immer etwas forsch auf, aber er war auch tüchtig und gewissenhaft – man konnte sich auf ihn verlassen, was auch schon lange nicht mehr die Regel war.

      Meike Stumm blieb fast zweieinhalb Stunden fort. Als sie mit mehreren Einkaufstüten zurückkam, pfiff Lene laut vor Bewunderung und etwas Neid: „Toll sehen Sie aus. Ich hätte Sie kaum wiedererkannt.“

      „Also gefalle ich Ihnen so?“

      „Und ob.“

      „Cosimo ist sein Geld wert, das stimmt. Schließlich muss ich heute noch zu meinem cholerischen Großvater Elmar und einen guten Eindruck auf ihn machen.“

      Lene seufzte – mit Elmar Stumm war sie nicht gut ausgekommen, aber vielleicht war er in vierzehn Jahren mit seiner Enkelin und Urenkelin nachsichtiger und vor allem geduldiger.

      „Viel Glück, Frau Stumm. Sie haben also, wenn ich richtig gerechnet habe, knapp sechs Jahre mit Malte zusammengelebt? Nach Sylvias Auszug wurden Sie doch tagsüber nicht mehr eingesperrt? Warum

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