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deine Enkelin Vera vorstellen und jetzt muss ich einmal dringend in mein Bad.“

      „Enkelin? Dann war das Ihre Tochter Meike?“

      „Ich weiß es nicht sicher. Es ging alles so schnell. Die Ähnlichkeit ist groß, und sie kennt sich im Hause aus. Sie wusste auch meinen Vornamen. Aber sicher bin ich mir nicht. Was soll ich denn jetzt machen?“

      „Ich muss mich bei meinem Kommissar vom Dienst abmelden, dann komme ich sofort zu Ihnen. Okay?“

      „Vielen Dank, Frau Schelm.“

      Vor vierzehn Jahren, 2004, war die damals sechzehnjährige Meike Stumm entführt worden und nicht mehr aufgetaucht. Lene Schelm hatte damals die Sonderkommission geleitet, die das Mädchen gesucht, aber keine Spur von ihm gefunden hatte. Elf Jahre nach ihrem Verschwinden, 2015, war die heute dreißigjährige Meike Stumm amtlich für tot erklärt worden.

      Die Polizei hatte spät, zu spät, von der Entführung erfahren.

      Die Hauptkommissarin Lene Schelm wurde an einem Sonntagvormittag vom KvD zur Burgruine Falkenweide geschickt. Spaziergänger hatten am Fuße der Burgmauern, unterhalb der als Kemenaten-Balustrade bezeichneten Brüstung, eine männliche Leiche gefunden. Der Tote konnte schnell identifiziert werden, Alexander Stumm, Lendersweg 11. Der Gerichtsmediziner legte sich sofort fest. Stumm war am Vortag gegen 23 Uhr erschossen worden. Was hatte er bei Dunkelheit in oder an einer Ruine zu suchen, die zu betreten wegen Einsturzgefahr verboten war?

      Lene war in den Lendersweg gefahren und hatte dort zwei Frauen angetroffen, die Ehefrau Liane Stumm geborene Grote, und die ledige Schwester des Toten, Ulrike Stumm, die eine Mittelmeerkreuzfahrt abgebrochen hatte und erst vor einer Stunde zurückgekommen war.

      „Entschuldigen Sie, wer sind Sie?“

      „Stumm, Ulrike Stumm. Meine Nichte Meike ist am vorigen Montag entführt worden. Bitte lesen Sie doch einmal diese beiden Briefe.“

      Beide Schreiben waren wohl mit einem Laserdrucker auf normales weißes DIN A4-Papier gedruckt worden: „Wir haben Ihre Tochter Meike entführt und verlangen eine Million in kleinen, gebrauchten, nicht markierten und nicht fortlaufend nummerierten Scheinen. Keine Presse, keine Polizei. Geldübergabe und Freilassung am Freitag dieser Woche ab 22 Uhr. Nähere Einzelheiten zur Übergabe schriftlich rechtzeitig. Achtung, es gibt nur einen Übergabeversuch. Sonst kaufen Sie besser eine Grabstelle.“

      „Das kann jeder Idiot getippt haben“, sagte Lene etwas verärgert und versuchte sich zu erinnern, woher sie den Namen Stumm kannte.

      „Ja. Mein Mann hat diesen Brief am Montagabend in unserem Hausbriefkasten gefunden. In dem Umschlag lag auch Meikes Ausweis für den Reiterhof Schlüter. Dort war sie am Montagnachmittag nach der Schule zum Reiten gewesen und von dort ist sie nicht mehr nach Hause gekommen.“

      „Am Montagabend?“

      „Ein unbekannter Mann hat gegen 21 Uhr angerufen und gesagt: ‚Schauen Sie in Ihren Hausbriefkasten‘.“

      „Am Montag?“

      „Ja.“

      „Ja. Mein Bruder Alexander hat diesen Brief am Montagabend in seinem Hausbriefkasten gefunden. In dem Umschlag lag auch Meikes Ausweis für den Reiterhof Schlüter. Dort war sie am Montagnachmittag nach der Schule zum Reiten gewesen und von dort ist sie nicht mehr nach Hause gekommen.“

      „Am Montag? Und warum erfahren wir das erst jetzt?“

      „Weil mein Bruder und meine Schwägerin sofort entschlossen waren zu zahlen. Und erst gestern traf mit der normalen Post vormittags das zweite Schreiben ein.“

      Wieder die Kopie eines per Laser ausgedruckten Briefes auf normalem DIN A4-Papier.

      „Bringen Sie das Geld in einem verschlossenen Metallkoffer zur Ruine Burg Falkenweide. Auf der Außen-Galerie an der Kemenate finden Sie einen roten Leinenbeutel der Firma Oppeln. Darin liegen die Schlüssel zum Versteck der Meike Stumm und natürlich eine Wegbeschreibung und die Adresse.“

      „Ihr Bruder wollte das Geld selbst überbringen?“

      „Ja.“

      „Wir haben an der Falkenweide kein Geld und keinen roten Beutel gefunden. Auch keine Spur von einem Mädchen.“

      Beide Frauen brachen erneut in wildes Schluchzen aus. Lene veranlasste noch, dass die Spurensicherung Material sicherstellte, damit die Hunde eine Spur aufnehmen konnten oder – aber das verschwieg sie lieber – später bei einer Mädchenleichte mittels DNA zweifelsfrei festgestellt werden konnte, ob es sich um Meike Stumm handelte. Die Kollegen würden Bilder und Fotos einsammeln. Jetzt lag das Kind im Brunnen, und jetzt machte es wenig Sinn, der Mutter und der Tante vorzuwerfen, dass sie nicht sofort zur Polizei gegangen waren. Wer jetzt die Gefangene Meike freiließ, riskierte, dass die sich genug gemerkt hatte, um ihre Entführer wegen Mordes lebenslang hinter Gitter zu bringen.

      Die beiden Briefe waren durch zu viele Hände gegangen, um noch hilfreiche Spuren zu sichern.

      Wenn Meike jetzt wirklich in ihr Elternhaus zurückgekehrt war, musste sie amtlich wieder zum Leben erweckt werden. Wo hatte sie die ganze Zeit über gesteckt? Vor einigen Monaten war eine Geschichte durch die Presse gegeistert, dass eine Vermisste aus Niedersachsen nach dreißig Jahren durch puren Zufall in Düsseldorf von der Polizei entdeckt worden war. Lene Schelm konnte sich aber nicht mehr daran erinnern, ob diese junge Frau auch amtlich für tot erklärt gewesen war. Die meisten Vermissten kehrten nach einigen Monaten zu ihren Familien zurück, einige – zum Glück nur wenige – wurden später als Leichen gefunden und durch moderne DNA-Methoden identifiziert. Liane Stumm hatte nie glauben wollen, dass ihre Tochter tot sein könnte und hatte sich mit der Hauptkommissarin Lene Schelm wahrscheinlich so gut verstanden, weil die das auch nicht wahrhaben wollte. Anders als Lianes Schwiegervater Elmar Stumm, der ziemlich schnell überzeugt schien, Meike würde nicht mehr zurückkommen, bitter – aber damit müsse man sich abfinden. Lene und die Kollegen aus der SoKo Meike hatten sich dieser Vermutung widerwillig angeschlossen, weil sie sich die Hacken krumm gelaufen, aber kein Motiv gefunden hatten, warum Meike aus dem Elternhaus weggelaufen sein sollte. Das Mädchen war geistig, körperlich und seelisch gesund gewesen, hübsch, umschwärmt und beliebt, eine gute Schülerin mit vielen Freunden und Freundinnen, ohne erklärte Feinde. Ob jemand ein Motiv hatte, sich an ihren Eltern zu rächen, blieb ungeklärt, und von einer großen überwältigenden Liebe, die alle Dummheiten erklären würde, war nichts bekannt. Tante Rike formulierte das so: „Meike interessiert sich mehr für vierbeinige Pferde als für zweibeinige Esel.“ Für den Millionär Elmar Stumm war das Hauptproblem gewesen, in so kurzer Zeit so viel Bargeld in der vorgeschriebenen Stückelung aufzutreiben. Nach Wochen intensiver Recherche blieb ein bis dahin unbekanntes Verbrechen die logischste Erklärung, und als sich Liane Stumm nicht länger gegen diese Erklärung sträuben konnte, hatte sie einen Selbstmord versucht. Lene Schelm hatte sie gerade noch rechtzeitig gefunden.

      Liane Stumm kam an die Haustür, als Lene klingelte, weinte und umarmte die Kommissarin.

      „Schön, dass Sie gekommen sind.“

      Lene Schelm hatte die lebende Meike Stumm nie gesehen, was die Mutter natürlich wusste. „Wo ist sie, Frau Stumm?“

      „Hier bin ich“, sagte eine helle Frauenstimme. Die junge Frau Ende zwanzig kam an die Haustür; sie hatte geduscht und trug noch immer einen hellen Bademantel und ein zu einem Turban gebundenes Handtuch über den feuchten Haaren.

      Lene gab ihr die Hand: „Guten Tag, Sie sind also Meike Stumm. Ich heiße Lene Schelm. Und habe Sie vor vierzehn Jahren lange erfolglos gesucht.“

      „Und ich bin Vera Stumm“, piepste das kleine Mädchen, das sich an die Beine der Mutter klammerte, aber furchtlos die fremde Frau musterte. „Und wer bist du?“

      „Entschuldigung, Vera“, sagte Lene zerknirscht. „Ich heiße Lene Schelm und kenne deine Oma schon seit vielen Jahren.“

      „Kommen Sie doch herein. Wir haben frischen Kaffee gekochte.“ Meike fischte in der Diele aus einem Häufchen getragener Kleidung einen

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