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in den abgelaufenen zweiundfünfzig Wochen zuvor. Er pries die Uhrenmodelle der Edelschmiede wie ein frisch ausgegrabenes Weltkulturerbe an, das die Geschichte der Menschheit in ganz neuem Licht präsentierte. Einem Schmuckhändler in Leipzig erzählte er beispielsweise, dass es nur eine Uhr in diesem Universum gäbe, die den Herzschlag der Erde einfangen und als Zeitimpuls würdevoll auswerfen könne. Natürlich offerierte Knut in diesem Moment das teuerste Modell der sächsischen Nobelmanufaktur, für die er am liebsten mithilfe der hellsten Superlativen verkaufte. Von allen Seiten erhielt er Schulterklopfer und warme Worte. Manchmal waren die Lobpreisungen so blumig und umschmeichelnd, dass Knut negierte, woher er kam und was für ein Mensch er gerade wurde. Einzig entscheidend war für ihn der berufiche Erfolg, das angesammelte und ausgegebene Geld und der ständige Drang nach neuer und frischer Bestätigung. Dass unsere moderne Welt dieses Lebenskonzept forciert und bis in die entferntesten Winkel des Planeten trägt, sei an dieser Stelle erwähnt, aber nicht weiter ausgeführt.

      Abends, wenn der Verkauf gut lief, gönnte sich Knut in hoher Regelmäßigkeit sein Lieblingsessen. Dazu fuhr mit seinem nebelgrauen Flitzer aus Ingolstädter Produktion in die Innenstadt und parkte unweit seines Stammlokals. Serviert wurden ihm anschließend die Filetspitzen des Kobe-Rindes. Mit fein marmorierten Fettäderchen durchzogen und von unbeschreiblicher Saftigkeit – zweifelsohne eine der teuersten Varianten, auf unserer Erde Fleisch zu verzehren. Gereicht wurden ihm dazu in Rosmarin-Schmalz geschwenkte „La Ratte“ – eine alte französische Kartoffelsorte mit nussigem Geschmack. Selten war er allein unterwegs. Häufg gesellte sich sein Arbeitskollege Jens dazu, der in der Entwicklungsabteilung der Uhrenmanufaktur tätig war und sich immer wieder fasziniert über Knuts Verkaufsmethoden zeigte. Manchmal unterhielten sich die beiden über profane Privatangelegenheiten, doch Knut wusste genau einzuschätzen, an welcher Stelle er seine wahre Vergangenheit verschleiern wollte. Niemand sollte wissen, was damals im Garten seiner Großeltern geschah und kein Mensch ging es etwas an, warum er den Namen Thilo nie wieder positiv assoziieren wird. Er war der Meinung, dass es ausreiche, wenn er selbst bestimmt, welche Informationen bezüglich seiner Person maßgeblich sind. Wer mehr Fragen hatte, sollte Philosophie studieren oder Gedichte interpretieren. Da gäbe es mehr zu erfahren als bei ihm.

      Knut und Jens plauderten an diesem Abend über die aktuellen Neuigkeiten aus der Firma. Welche Zeigerfarbe bekommt das künftige Modell? Welches Edelmetall wird für den Rotor verwendet? Wird das Werk mit Genfer Steifen oder mit einem Sonnenschliff verziert? Es war 19.27 Uhr, als Knuts Handy die Ankunft einer Kurznachricht vermeldete. Sein Smartphone lag zentral auf dem Tisch positioniert. Jens saß ihm gegenüber und Knut zeigte keine Reaktion auf das leuchtende Display. Die Sekunden standen förmlich im Raum des Restaurants. Knut schloss die Augen, senkte gleichmäßig seinen Kopf und verharrte in dem Gefühl, das ihn überbordend futete. Jens schien erschrocken über die ungewohnte Reaktion seines Kollegen zu sein und konnte Knuts Mimik nicht deuten. Er fühlte sich unsicher und blieb deshalb sprachlos ruhend. Über eine Minute hinweg saßen sich die beiden gegenüber. Null Worte wechselnd, keine Blicke tauschend. Eine Szene fast wie aus einem Theaterstück. Nur dass die handelnden Personen keine Schauspieler waren, sondern Menschen wie du und ich. Mit einem kräftigen Schwung stand Knut auf, schnappte sich sein Handy und verließ kommentarlos den gemeinsamen Tisch. Jens blickte ihm desillusioniert hinterher, doch Knuts Schritt wurde fortwährend schneller, bis er schließlich die Tür erreichte und nichts von ihm blieb. Nur der fnale Schwall seines französischen Parfums schwebte noch im Raum und hinterließ eine akzentuierte Note aus kräftigem Eichenmoos und süßlichem Patschuli. Nach dreißig Minuten endete das Warten. Jens zahlte die Rechnung, verabschiedete sich vom Kellner und zog seine dunkelblaue Daunenjacke über. Er hatte mehrfach versucht, Knut auf seinem Handy zu erreichen, doch dieser reagierte nicht. Stumm schritt Jens in die Nacht hinaus.

      Es war Mitte Dezember und der Wind verbreitete arktische Winterluft. Dass Weihnachten vor der Tür stand, war sofort ersichtlich. Das Fest der Liebe sollte bald folgen. Im Kreise der Familie.

      Dich selbst zu erkennen,

      ist eine lebenslange Etappe.

      Doch vergisst du die Zeit,

      zeichnen sich die klarsten Konturen

      von ganz allein.

      KAPITEL FÜNF.

      Um 20.16 Uhr stellte Knut sein schnittiges Gefährt aus deutscher Automobilproduktion ab. Er parkte direkt vor dem Eingang des Hauses, in dem er eine schicke Dreizimmerwohnung gemietet hatte. Über zwei Etagen verteilt, gab es allerlei Annehmlichkeiten zu bestaunen. Ein großes Fernsehgerät, ausgestattet mit neuester Technik, stand genauso parat, wie seine sündhaft teure Musikanlage, die mit Lautsprechersäulen von über einem Meter Höhe aufwarten konnte. Der Klang dieser audiophilen Kombination zauberte ihm täglich ein Lächeln ins Gesicht. Dennoch war Knut häufg damit beschäftigt, sich über noch bessere Komponenten zu informieren, die das akustische Erlebnis in immer neue Sphären hieven sollten.

      Seit geraumer Zeit interessierte er sich auch für Kunstgegenstände aller Art, insbesondere für Gemälde des deutschen Expressionismus. Eine Kulturepoche, die infolge legendärer Bewegungen wie Die Brücke und Der Blaue Reiter, heute weltweit für Ansehen und Bewunderung sorgt. Knut war zwar fnanziell nicht in der Lage, millionenschwere Bilder sein Eigen zu nennen, doch für den ein oder anderen hochwertig gerahmten Druck reichte es in jedem Falle. Zudem erfüllte ihn ein kleines Schätzchen mit üppigem Stolz. Eine auf einhundert Exemplare limitierte Lithografe eines berühmten deutschen Expressionisten hing schick drapiert vor einer blütenweißen Wohnzimmerwand. Sie war Hingucker und Augenfänger zugleich, besonders dadurch unterstrichen, dass die Grafk stilsicher in einer Berliner Leiste gerahmt war.

      Knut bestieg eilig das Treppenhaus und erreichte nach zweiundzwanzig Stufen seine Eingangstür. Diese war nur simpel herangezogen, ohne dass das Schloss wirklich fest verriegelt war. Er legte seinen schiefergrauen Wollmantel ab und platzierte die, aus feinem Ziegenleder gearbeiteten, hellbraunen Budapester, punktgenau im Schuhregal.

      Auch seine Krawatte musste weichen, denn schließlich benötigte er jedes Gramm Luft, das ihm Beruhigung und Freiraum verschafften konnte. Knut setzte sich auf sein lichtgraues Sofa und nahm sein Smartphone zur Hand. Bis er sich durchgerungen hatte, das Display seines Handys zu aktivieren, wurde ihm die absolute Ruhe verwehrt. Wiederkehrend waren Automobile zu hören, die die Hauptstraße vor seiner Wohnung passierten und die sich, zumindest der Lautstärke nach zu urteilen, nicht konsequent an die Geschwindigkeitsbegrenzung von dreißig Kilometern pro Stunde hielten. Der Bildschirm seines Smartphones leuchtete hell. Erneut ging eine Kurznachricht ein. Es war 20.27 Uhr und die Luft stand im Raum.

      „Junge, melde dich bitte, wenn du zu Hause bist! Opi.“

      Knut war sich zu hundert Prozent sicher, dass es wichtig sein musste, wenn ihm sein Opa binnen einer Stunde zwei Textnachrichten auf sein Handy schickte. Werner stand mit der neuen Technik zwar auf Kriegsfuß, hatte sich von seinem Enkel aber überzeugen lassen, dass es sinnvoll sei, auch im Garten telefonisch erreichbar zu sein. Ohne mit seinem Großvater gesprochen zu haben, wusste Knut bereits, dass seine Welt ab morgen nicht mehr jene Realität abbilden würde, die sie bis zum heutigen Abend vorgab zu sein.

      „Hallo Junge, gut dass du anrufst.“

      Knut hatte lange mit sich gerungen, bis er endlich die Nummer seines Großvaters wählte.

      „Opi, wie gehts euch? Was ist denn los? "

      Werner stockte kurz der Atem und für einen Außenstehenden musste es so gewirkt haben, als säße ein fester Kloß in seinem Hals, der sich nicht schlucken ließ, weil dieser aus unverdauten Informationen bestand.

      „Junge, deiner Omi geht es nicht so gut. Sie hat wieder Probleme mit der Lunge. Seit sie mir damals im Garten umgekippt ist, wird es immer schlimmer. Deshalb hab' ich Omi vorhin ins Krankenhaus gefahren. Wenn sie hustet, klingt es wie bei Dieters Mischling, der doch immer den halben Tag unnütz bellt! "

      Nachdem Werner ein schmales Lachen durch den Telefonhörer futschen ließ, musste auch Knut ein wenig schmunzeln. Die Situation entpuppte sich zwar als sehr ernst, doch wussten Großvater und Enkel in dieser Abendstunde, dass Loyalität für die beiden Männer mehr als nur ein Wort war.

      „Opi, ich fahre morgen früh

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