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ich, wie zum Hohn, einen ominös dekorierten Saunaclub namens Harmony. In Bendestorf drehe ich meinen Clip [www.tinyurl.com/HamburgSO, 2 Min.] und wärme mich im Supermarkt. Nebenbei kaufe ich ein: Es gibt eine Kochgelegenheit in meiner Unterkunft.

      Bis dahin fehlen nur zwanzig Kilometer, aber ich erlebe die alte Langstreckenregel: Je intensiver man sich bereits am Ziel wähnt und unter erlösendem Duschwasser, umso unerträglicher und grässlicher erscheint oft die noch zu bewältigende Gegenwart. Ich trage mit Fassung, dass Beine und Schulter schmerzen. Unerträglich ist mir der Verkehr bis Jesteburg. Er ergießt sich aus Hamburg und zwei tangentialen Autobahnen in den Feierabend. Alle Pkw strömen am Ende Jesteburgs nach links. Ich verlasse den Strom, fahre allein und geradewegs in die Lüllauer Dorfstraße. ›Sich einlullen lassen‹ denke ich, erschöpft vom Tagwerk, die letzten Kilometer entlang der Seeve ausrollend bis zur Endstation Thelstorf.

      Den nächsten Morgen erwache ich von einer im ersten Moment erschreckenden Polyphonie. Dass Vögel in freier norddeutscher Natur derart laut und artenreich tönen, ist mir neu. Bevor ich mich aus dem Bett schäle, gönne ich dem Hirn Dehnungsübungen. ›Naturverwachsen in Niedersachsen‹. Nein! Bitte keine Reime. ›Die Nordheide und ihre gefiederten Freunde‹ – schauerlich. ›Husch Husch, It’s All Busch‹.

      Pack dein Hirn ein, steh auf und sieh zu, alsbald auf die Piste zu kommen. Die schlimme Dichterei zeugt von unsäglichem Übermut, der bei dir – sorry für den Kassandraruf – selten gut endet.

      Nein, mein Lieber, diesen dritten Tag spüre ich als Glückstag. Und Allbusch gibt es wirklich: So heißt die Straße hinter Thelstorf – eine feine Piste fürs Rennrad übrigens.

      In Handeloh liegt die vogel- und waldreiche Gegend hinter mir.f ›Niedersächsisch normal‹ würde ich sagen, fragte mich jemand, wie ich die Gegend empfinde. Eben erstreckt sich das Land, Platt steht auf einigen Schildern. Das Dorf Welle zum Beispiel heißt niederdeutsch Will.

      Platt bin ich einige Kilometer weiter angesichts eines Straßenschilds. Es gehört zum Landkreis Rotenburg und benennt die Patenschaften, hübsch mit Wappen: ›Angerburg, Ostpreußen‹ und ›Stuhm, Westpreußen‹. Im ersten Rotenburger Dorf, Tiste, frage ich an seinem alten Fachwerkgehöft den Bauer, wie die revanchistischen Namen zu verstehen seien. Hartmut Löhmann misst den preußischen Bezeichnungen keine Bedeutung zu, schiebt alle Schilderschuld auf die Kreisverwaltung. Nein, meint er auf meine Nachfrage, Parteien am rechten Rand seien in der Gegend unbedeutend, allen Trends im Osten zum Trotz. Was politisch in den Neuen Ländern passiert, interessiere hier kaum. »Die Leute sind fixiert auf ihre Arbeit und die Verkehrsanbindung« sagt Löhmann. »Viele pendeln nach Bremen oder Hamburg und brauchen manchmal zwei Stunden, einfache Strecke.« A1 statt AfD. Das lokale Staubarometer ist in Tiste wichtiger als die politische Großwetterlage.

      Nach dem Gesprächsmitschnitt will ich das Smartphone neu laden. Dem geht im Strudel von Navigation, Nachschlagen und Notizen meist schon nach zwei Stunden der Saft aus. Doch hier, in Tiste, endet jäh das Gemächliche dieses glücklichen Morgens. Der Schreck fährt mir doppelt in die Glieder. Ladestecker und -kabel fehlen, sind wohl in Thelstorf geblieben. Und beim Gepäck-Check werde ich gewahr: Das Radhemd, das ich in Welle zum Trocknen auf die Packtasche schnallte, ist weg. Anruf in Thelstorf. Die Wirtin würde mir die Gerätschaft hinterherfahren. Wir verabreden uns in Welle. Zwanzig Kilometer meiner Morgenstrecke muss ich bis dahin erneut abstrampeln (und später wieder bis Tiste). Das Gute daran: Mitten auf der Strecke finde ich am Straßenrand mein Unterhemd, schmutzig zwar, aber trocken.

      Tiste-Welle-Tiste: Diese Extratour zählt zwar nicht zur offiziellen Strecken-, aber sehr wohl zur privaten Leistungsbilanz. Deswegen gelange ich erschöpfter als geplant nach Ehestorf, wo sich die Gesamtstrecke der Deutschlandroute zu 250 Kilometern summiert. Mir ist feierlich zumute und ich stoppe am ›Melkhus‹, bestelle eine Pina Kuhlada. Der ohne ñ geschriebene, aber die Eiweißquelle korrekt angebende Mix besteht aus Buttermilch, Rhabarber, Bananen, Kokossirup. Zusammen mit zwei Stücken Erdbeerkuchen ergibt das ein treffliches Mittagessen. Nebenbei erfahre ich von der Bäuerin, in ihrem Landkreis gebe es mit rund 70000 Kühen mehr Milchvieh als in den meisten Kreisen Südbayerns.

      Des süßen Krams und der Wärme wegen sind meine Wasservorräte im Nu aufgebraucht. Halten will ich erst in Nartum, fahre am frühen Nachmittag gegen den Uhrzeigersinn um Rotenburg. Wenn Tiste als kleiner Zeiger auf 14 Uhr zeigt, liegt Nartum dort, wo der Minutenzeiger auf ›zehn vor‹ steht. An einem Imbissstand decke ich mich mit Wasser ein. Das Rad lehnt derweil unter der Anschlagtafel des Dorfs. ›Wir suchen Dich‹ heißt es auf dem Plakat des FSV. Der Fußballsportverein braucht Nachwuchs – Jungs als ›die Herren von Morgen‹, heißt es auf dem Papier.

      In Nartum, etwa in der Mitte zwischen Lüneburger Heide und Bremen, lebte bis 2007 ein ganz großer Sucher. Biografische Dokumente aller Art waren seine Objekte, an die er sogar über Aufrufe in Funk, Fernsehen und Presse gelangte. Die Menschen schickten sie ihm massenhaft, in seine Villa am Dorfrand: Über 10000 Schriftdokumente, etwa 300.000 Einzelfotos – ›unheimlich der Umfang‹ urteilte Walter Kempowski über sein ›Archiv für unpublizierte Autobiographien‹. Schnipsel daraus, in akribischer Einzelarbeit aus unzähligen Einzelschicksalen herausgeschnitten, verklebte er im Spätwerk zur detailreichen Schau auf deutsche Geschichte.

      ›Kommen Sie vorbei und klingeln einfach, es sollte jemand da sein‹ hatte mir die Kempowski Stiftung vorab geschrieben. Das berühmte Archiv lagert zwar nicht mehr in ›Haus Kreienhoop‹ – zwei Jahre vor Kempowskis Tod zog es nach Berlin. Aber ich selbst suche in der Arbeitsumgebung des Autors von ›Tadellöser & Wolff‹ und ›Echolot‹ auch etwas: Inspiration.

      Niemand öffnet, Knappmannsdörfer! So schimpfen Charaktere im ›Tadellöser‹. Aber ein lauter Fluch, bloß weil ich keinen Einlass bekomme, beschämte mich. Es ist so wunderbar ruhig hier nach meinem halbtägigen Straßenritt. Die Villa liegt am Dorfrand, umfangen nur von Vogelstimmen. Vielleicht kommt noch jemand von der Stiftung? Ich drehe eine Kreienhoop-Warteschleife im Internet, scanne Informationen zu Kempowski. ›Rostock… Dorfschullehrer… Zeitgemälde collagierte.‹ Hey, das ist ein herrliches Stichwort für meinen Deutschlandreport, Collage! Ursprünglich schwebte mir ein Mosaik vor, dessen Steine ich in den Ländern sammle. Aber am Mosaik missfällt mir, dass die Steine in den Hintergrund treten für Betrachterinnen und Betrachter. Beim Mosaik zählt das Gesamtbild; die Steine sind nur funktionell. Was ich im Kleinen aufklaube in Deutschland, soll aber sichtbar und für sich bedeutsam bleiben. Lieber bastle ich eine Collage, wo die Deutschland-Schnipsel ihre Eigenständigkeit behalten.

      Wetten, du schwadronierst nun schnulzenhaft über den Wink des Schicksals und über Kausalverkettung, die dich in Nartum in die Warteschleife führten? Hüte dich mal vor Überinterpretation.

      Ich verzichte. Zumindest auf das Navi, weil ich denke: In die Dorfmitte, wo ich mich aus der Radroute ausklinkte, finde ich spielend ohne GPS zurück. Aber Fehlanzeige, ich bin nach Steinfeld abgebogen.

      Zurück nach Nartum? Ich frage einen Förster, der feldseitig in seinem Wagen wurschtelt. Auf dem Rücksitz erspähe ich Exemplare der Broschüre ›Willkommen Wolf‹. Wie akzeptiert hier die Bevölkerung den neuen Mitbewohner, der sich vornehmlich entlang der Achse Sachsen-Niedersachsen ausbreitet? Schlecht, meint der Förster, in Steinfeld soll ein Mann bei Arbeiten am Friedhofszaun gebissen worden sein. Das wäre Deutschlandpremiere für eine Attacke auf einen Menschen, aber bewiesen sei noch nichts.

      15.30 Uhr, zurück auf der Route. Bis zum Ziel im nördlichen Bremen fehlen noch vierzig Kilometer. Hinter Nartum ödet mich die Gegend an, viele Großfelder, immergleiche Gehöfte. Vielleicht wären Wolfsafaris ein belebender Wirtschaftszweig? Obwohl die Gegend so arm nicht sein kann: Großkonzerne zahlen hier Tribut, um in den Eingeweiden der Erdkruste zu bohren. Nach Erdgas. Gefördert wird es seit Jahrzehnten in Deutschland: zu 97 Prozent in Niedersachsen, dabei größtenteils in Kempowski-Land. Auch wenn die gesamte deutsche Erdgasförderung nur 7 Prozent des Deutschlandbedarfs deckt, sind hier die ganz Großen vertreten, wie Exxon-Mobil und RWE Dea. Rund elf Milliarden Kubikmeter Erdgas fördern sie jährlich. Es ist genug, um umgerechnet 55000 Einfamilienhäuser ein Jahr lang zu beheizen. Das reichte fürs komplette Rotenburg. Die Stadt an der Wümme ist ungekrönte Hauptstadt des größten Erdgas-Fördergebiets, um die ich mit

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