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sich um Attrappen, bloß zur Abschreckung, und unterzeichnete 1975 die Menschenrechtserklärung von Helsinki. Demontiert wurden die Splitterminen erst 1984, weil der Westen Druck ausübte. Ohne SM-Rückbau hätte die DDR einen Milliardenkredit nicht bekommen und wäre womöglich zahlungsunfähig geworden.

      Als ich von der Gedenkstätte zurück auf den lichten Grenzstreifen gelange, ist die Abendsonne hinter schwarzen Schleiern versackt. Im Süden und Osten schimmern noch blaue Flecken zwischen Gewölk. Instinktiv hoffe ich, Blau möge sich durchsetzen. Oder lieber doch nicht? Mit himmlischem Blau wirbt ja ausgerechnet die AfD. Und später im Jahr werden sich die Blauen bei drei von vier Länderwahlen Ostdeutschlands zu Spitzenparteien in den Parlamenten mausern.

      Grass pinselte einst ein Aquarell, das mir in den Sinn kommt: Deutschland in Braunrotgrün-Tönen. Darüber ist in breiter Kurvatur – die Assoziation Kothaufen liegt nicht fern – handschriftlich schwarz geschrieben: ›Seit Jahren liegt eine Last auf meinem Land. Versteinerter Brei, klebfest, nicht abzuwählen.‹

      Zweiter Fahrtag: ›Heimat bewahren‹ begrüßt mich ein AfD-Plakat am Rande Boizenburgs. DDR-Heimat wird von der AfD wohl nicht gemeint sein. Dabei bietet Boizenburg den sogenannten Ostalgikern zwei anschauliche Objekte. Das eine ist essbar und schmeckt lecker. Im anderen Objekt kann man essen, aber es wirkt völlig geschmacklos. Aber der Reihe nach.

      Von Leisterförde nach Boizenburg sind es zwanzig flache Kilometer, gesäumt von Wald und bespielt vom Bach namens Boize. Im Gegensatz zu Berlin bietet das Städtchen Frühstücksgarantie: ›Handwerksbäckerei‹ weist im Zentrum ein Schild in die Königstraße. Fünf Minuten später stehe ich, noch ohne Frühstück, bei Thomas Stenschke in der Backstube.

       Kilometer 126: Ostalgie in Brötchenform

      Stenschke holt aus einem großen Plastikeimer sein liebstes Kind: den Teig aus dem er ›Ossis‹ macht. »Drinnen steckt eine ganz besondere Zutat« schmunzelt der 53-Jährige »und das ist Zeit«. Stenschke setzt abends einen Vorteig an, den er frühmorgens ein zweites Mal durchknetet. Täglich bäckt er an die hundert jener Doppelbrötchen, die er an der Straße als ›DDR-Brötchen‹ bewirbt, die im Laden aber einfach ›Ossis‹ heißen und deren Korb auch so beschriftet ist. Wie reagieren die Menschen in Boizenburg auf Stenschkes ›Ossis‹? »Beschwert oder gemeckert hat niemand« sagt der Bäcker. »Das hat sicher auch damit zu tun, dass ich von hier stamme. Meine Oma übernahm den Laden vor dem Krieg.« Zu DDR-Zeiten übernahm Stenschkes Vater. Der buk nach der Wende weiter DDR-Brötchen, aber jedes Jahr nur einmal: zum einstigen ›Tag der Republik‹. Politischen Hintergrund dafür gab es keinen, sagt Stenschke. »Das war ein reiner Werbegag.« Seit Oktober 2015 bietet der Bäcker seine ›Ossis‹ nun täglich in der Königstraße feil.

      Als ich mich nach ›Ossi‹-Lehrgang und -Frühstück verabschiede, lasse ich mir für 60 Cent eines der aromatisch duftenden Doppelbrötchen einpacken.

      Wenn es nicht bis zur Nordsee dümpelte, wurde das Brötchen vielleicht von einem Schwan oder einem Fisch gefuttert, und das kam so: Ich fuhr raus aus Mecklenburg – Brücke über die Elbe – holprige Holzbohlen am Geländer – Brötchentüte nicht sicher verzurrt auf dem Packsack – ›Ossi‹ hopst in die Elbe.

      Noch ist es nicht so weit mit mir, noch habe ich mein Brötchen und bin in Boizenburg. Am Ortsausgang gab es zu DDR-Zeiten eine Kontrollstelle, sieben Kilometer vor dem finalen Grenzzaun. Heute heißt sie ›Checkpoint Harry‹. Ein Harry S. kaufte den Flachbau nach der Wende und baute ihn als Imbiss, Gaststätte, Partyservice aus. Neben dem Eingang prangt mannshoch ein Fliesenmosaik an der Wand. Es zeigt einen lächelnden DDR-Grenzer, winkend, mit glänzenden Schaftstiefeln, in der Rechten hält er ein halbvolles Gläschen mit rotem Sekt. Gerne hätte ich Harry S. befragt, ob er mit dem Grenzer einen derben Spaß macht oder aber alte Zeiten zurücksehnt. Aber aus Holstein weiß ich schon: Wer zu früh kommt, den bestrafen verschlossene Türen. ›Checkpoint Harry‹ öffnet wie der Imbiss gestern in Berlin erst spät vormittags. So mache ich mich rasch daran, das geschmacklose Fliesenbild und den Osten hinter mir zu lassen. ›Einreisen‹ werde ich erst wieder in 1472 Kilometern.

      Das Strafwort für Radfahrer, die nach Westen rübermachen, heißt Westwind. Mit jeder Stunde bläst er heftiger; auf den exponierten Elbhängen hinter Boizenburg geradezu ekelhaft. Ich muss mich geradewegs hindurcharbeiten und ein Stückchen Holstein queren. Dann quere ich die Elbe und bin in Niedersachsen.

      Hohnstorf heißt der erste Ort. Ohne zehrenden Wind könnte er nett sein. Doch die Häuser am Elbdeich sind verteilt, als repräsentieren sie die Großzügigkeit des gesamten Flächenlandes: Es findet sich kein Windschatten, überall wirbelnde Brisen. Der Tag wird noch lang, denke ich, du hast keinen ›Ossi‹ mehr und kaum anderen Proviant. Ob sich in Hohnstorf etwas kaufen lässt? Google spuckt Edeka aus, aber das ist abseits, jenseits der Bundesstraße, das widerstrebt mir. Ich bleibe auf der Route, probiere mein Glück am letzten Haus, Pension und Ferienwohnung in einer Sackgasse namens Fischerzug. Vielleicht räumen die dort eben erst das Frühstück weg und…

      »Ich hab momentan nur auf Vorbestellung« unterbricht meine Spekulationen der Mann, der gerade aus der Pension tritt. Glaubt er, ich suche eine Bleibe? Nein, stellt sich heraus, er glaubt, ich will Fisch.

      Eckhard Panz ist Fischer in vierzehnter Generation, einer der letzten seiner Zunft an der Elbe. Panz nimmt mich mit in den Anbau des Haupthauses, wo es in einem mächtigen Bassin brodelt und spritzt. »Meerforellen« erklärt er und lupft eine heraus, »so an die sieben Kilogramm «. Panz fährt zweigleisig, er vermietet und handelt mit Fischen. Aber eigentlich hat er Maurer gelernt.

      Mehr als tausend Fischer hatten vor gut hundert Jahren ihr Auskommen entlang jenes Elbabschnitts, den südlich das Land Niedersachsen begrenzt. Allein zwanzig Fischer lebten in Hohnstorf. Heute gibt es noch fünf in ganz Niedersachsen, also auf knapp 250 Elb-Kilometern.

      Seine berufliche Wende verortet Panz im Jahr 1999, da war er 33 Jahre alt. »Nachdem die ganzen Dreckschleudern im Osten dicht gemacht hatten, hatte sich die Elbe tatsächlich erholt, damit hatten selbst die Biologen nicht gerechnet.« Also übernahm er doch das Revier vom Vater, das vom ›Fischerzug‹ 18 Kilometer flussabwärts reicht und sieben aufwärts. Panz fischt Aal, Zander und etliches mehr. Meerforellen, erklärt er, sind kräftige Lachsartige, die sogar die Fischtreppe am Wehr Geesthacht meistern – anders als der verwandte Stint. »Mit dem sieht es jetzt ganz schlecht aus, sagt der Kollege in Hoopte.« Und schon sind wir bei Flussthema Nummer eins für Hamburgs Einzugsgebiet. Das Thema ist nicht Elphi sondern Elbvertiefung – dieses Jahr die insgesamt zehnte, sagt Panz. »Ganz früher war die Elbe im Hafen vier Meter tief, jetzt sind es sechzehn. Was an Fischlarven nicht allein durchs Baggern kaputt geht« schildert Panz die Konsequenzen »das reißt jetzt die immer stärkere Strömung mit.« Meine abschließende Frage, wie es in seiner Familie wohl weitergeht mit der Fischerei, beantwortet Panz ausweichend. »Der Sohn geht noch zur Schule – die Fischerei muss man in den Adern haben!« Ein Auto hält vor dem Haus, Kunden holen vorbestellten Fisch. Die Stammkundschaft kommt zu Panz nicht nur samstags auf den Markt in Uelzen, sondern täglich auch direkt in den Fischerzug an der Elbe. Wie sagt doch Panz am Schluss – und es klingt leicht verbittert: »Jahraus jahrein sechs Wochentage Arbeit, und dann am siebten Tag alles ausgeben.«

      Der Fischer: Eckhart Panz, einer der letzten seiner Zunft, an der niedersächsischen Elbe vor seinem Fischerboot.

      Mittag naht, ich denke an die üppigen Meerforellen. In Hoopte, weiß ich von Panz, betreibt sein Kollege ein Fischrestaurant. Doch bis dahin fehlt eine knappe Stunde Fahrt – bei normalem Gegenwind. Was sich mir auf dem Deich hinter Hohnstorf bietet, verdient eher die Bezeichnung Sturm. Ich hänge den Körper über den Lenker, schaue rechts zu Elbe: imposant, mitreißend ihre Wasser. Für mich schwimmt ein Schluck Heimat mit, H2O aus Sachsen, Stammland eines Teils meiner Familie, wohin wir jedes Jahr per Interzonenzug fuhren. Start war stets Nordbayern, dessen Flüsse in den Rhein entwässern. Ziel aber war das Einzugsgebiet der Elbe, die sich mir als braun und schlammfarben einprägte, ähnlich gefärbt wie die Ufermauer gegenüber von Hohnstorf. Dort liegt Lauenburg. Heute gehört es zu Holstein, war einst aber

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