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Rettung. Er sorgt mit seinem verstehenden Blick dafür, dass ich jeden Morgen wieder aufstehe und dreimal am Tag einen Spaziergang mit ihm mache – gleichgültig, wie auch immer es in mir aussehen mag.

      Es fällt mir schwer, die neue Umgebung in der mir immer noch fremden Stadt wirklich zu akzeptieren. Meine Spaziergänge führen mich durch eine an sich nette Wohnsiedlung mit vielen älteren, stilvollen Einfamilienhäusern und einem Neubaugebiet mit den typischen Häusern für junge Familien. Ich weine viel auf diesen einsamen Spaziergängen, kann den Anblick von Paaren und Familien kaum ertragen. Ich ignoriere tapfer die neugierigen und manchmal mitleidigen Blicke, die mein verheultes Gesicht auf sich zieht.

      Viel essen kann ich immer noch nicht und so ist der wöchentliche Einkauf schnell erledigt. Manchmal kostet es mich Kraft und wirkliche Überwindung, aus dem Auto zu steigen und in den Supermarkt hineinzugehen. Zu viele Menschen um mich herum lösen in meiner momentanen Verfassung rasch Panik in mir aus, ein Gefühl, das mir bislang fremd war. Eberhard und ich hatten den Wocheneinkauf immer gemeinsam erledigt, meist freitagsabends, und waren auch darin ein eingespieltes Team. Jetzt aber, so ganz allein inmitten vieler Familien und Paare, fühle ich mich deplatziert und ausgeschlossen.

      Ovambo läuft aufgeregt durch die Wohnung. Jeden Raum nimmt er schnuppernd in Besitz, ständig auf der Suche nach einem neuen Lieblingsplatz. Ich schaue in den Badezimmerspiegel, erkenne mich kaum wieder. Wer ist das bloß? Wer ist diese ausgemergelte und verhärmte Person mit den offensichtlich schon chronisch verquollenen, verweinten Augen? Ich lebe nicht mehr, existiere nur noch. Bin ich so eigentlich auf Dauer überlebensfähig?

      Während Ovambo noch seinen Lieblingsplatz sucht, habe ich meinen bereits gefunden. Den größten Teil des Tages verbringe ich auf meiner kleinen Ledercouch im Wohnzimmer. Früher, in meinem alten Leben, stand sie in meinem großen Büro. Gäste, Pressevertreter, die für die örtliche Zeitung über meine Firma berichteten, Mitarbeiter und Kunden hatten darauf Platz genommen, wenn sie zu mir ins Homeoffice kamen, um Geschäftliches zu besprechen. Nun ist sie für mich Synonym für meine Auszeit vom Leben – es wird mein beschissenes Jahr auf der Couch werden.

      Nachdem ich nun schon eine Woche nicht mehr am Briefkasten war, muss ich ihn endlich leeren, der Briefschlitz steht schon offen und ein paar Umschläge quellen bereits daraus hervor. Es sind so viele Briefe, Werbesendungen und jede Menge Geschäftspost. Na klar, meine Mitarbeiter schicken ihre Honorarforderungen, wollen für ihre Leistungen bezahlt werden. Im Gegensatz zu mir haben die ja alle noch ein Leben, das wie gewohnt weitergeht. Niemand ahnt etwas von meiner Katastrophe und den Dramen, die sich in meinem Leben gerade abspielen.

      Die Scham über das Erlebte ist so groß, dass ich mit keinem darüber spreche. Fahrig öffne ich die Schreiben, mir fehlen aber Kraft, Interesse und Motivation, hier irgendwie tätig zu werden. Müde lege ich alles beiseite. Morgen, nehme ich mir vor, morgen kümmere ich mich darum. Dabei bleibt es dann allerdings auch, meistens.

      Es klingelt an der Wohnungstür, ein lauter, fremder Ton. Mein Vater kommt die Treppe hoch. Er sieht die Abrechnungen auf meinem Schreibtisch, hält mir einen langweiligen Vortrag über meine Pflichten und verlangt, mich jetzt endlich mal um den Geschäftskram zu kümmern.

      „Papa, was glaubst du eigentlich, wo ich gerade herkomme? Aus einem WellnessWochenende? Ich kann das hier nicht – und ich will es auch nicht!“ Wieder breche ich in Tränen aus. Wie ich es hasse, vor meinem Vater die Contenance zu verlieren!

      Ich versuche mich zusammenzureißen. Nun hält er einen weiteren Monolog darüber, dass schließlich niemand etwas für meinen Zustand könne und ich gefälligst zusehen solle, meine Angelegenheiten künftig geregelt zu bekommen. Sein ganzes Leben hindurch selbstständig, und auch meistens sehr erfolgreich, war er immer ein Organisationstalent, hatte all seine Geschäfte stets im Griff. Von daher ist es für ihn ein Graus, dieses Chaos in meinem Büro zu sehen.

      Hätte er mich ein wenig besser gekannt, hätte er sich eigentlich Sorgen machen müssen, denn auch für mich sind Disziplin und Ordnung wesentliche Charakterzüge und es ist alles anderer als typisch für mich, mir dies alles derart entgleiten zu lassen und diesem

      Zustand mit absoluter Gleichgültigkeit zu begegnen. Doch er gibt keine Ruhe: „Als Verantwortliche für dein Institut hast du schließlich auch zu dieser Verantwortung zu stehen, da kannst du nicht einfach den Kopf in den Sand stecken. Sieh endlich zu, dass du dieses Chaos hier in den Griff bekommst!“, fährt er mich barsch an.

      Natürlich hat er recht, irgendein Teil von mir weiß das ja auch. Aber ich finde einfach keinen Weg, wie und wo ich anfangen soll. Wie soll ich meinem Vater nur begreiflich machen, dass es mir unmöglich ist, mich an diesen Schreibtisch zu setzen und mit der Arbeit zu beginnen? Wo soll ich die Konzentration für Online-banking und

      Abrechnungen hernehmen, für das Schalten von Werbung, für Statistiken? „Das ist keine Frage des sich Zusammenreißens, keine Frage des Wollens und Könnens! Es geht schlicht und einfach nicht. Da, wo einst Normalität in den Abläufen und ein gesunder Wille war, ist nun ein leeres Nichts an die Stelle getreten. Ich kann nicht und habe keine Ahnung, warum das so ist“, platzt es aus mir heraus.

      „Gut Britt, offenbar brauchst du wirklich Hilfe!“, das spürt mein Vater nun auch. „Ich mache dir einen Vorschlag: Ich komme von nun an zweimal in der Woche vorbei und wir erledigen alles Laufende gemeinsam. Ich bleibe bei dir, ich helfe dir. Aber du machst dir nun bitte auch Gedanken, wie es künftig weitergehen soll mit mit deiner Firma, deinem Beruf, okay?!“

      „Ja gerne, danke“, höre ich mich reflexartig sagen. Und ganz plötzlich weiß ich, was ich will. „Ich habe mir bereits Gedanken gemacht, Papa. Ich möchte das Unternehmen schnellstmöglich verkaufen. Kannst du mir dabei helfen?“ Nach dieser Aussage fühle ich mich unendlich erleichtert. Ich will einfach nur befreit sein von dem Druck, der Verantwortung, den Verpflichtungen und einer 60-Stunden-Woche. Ja, ich will endlich frei sein. Der Gedanke lässt mich nach langer Zeit endlich wieder einmal aufatmen.

      Zu meiner Überraschung stimmt mein Vater sofort zu. Ich verstehe seine Reaktion zwar nicht, aber das ist egal. Gerechnet hatte ich mit deutlich mehr Gegenwind, mit langen Vorträgen darüber, dass ich im Moment nichts überstürzen solle, mir Zeit für eine Entscheidung nehmen müsse. Aber wenn es so einfach geht, umso besser. Das erspart mir eine weitere anstrengende Diskussion. Offenbar hat er sich wohl selbst schon Gedanken über diese Möglichkeit gemacht und bietet mir sofort an, sich um den Verkauf meines Unternehmens zu kümmern und alle Verhandlungen in meinem Namen zu führen. Natürlich geschieht dies nicht etwa aus rein väterlicher Sorge und Liebe heraus, sondern auf kühler Geschäftsbasis – und selbstverständlich verbunden mit einer saftigen Provision, wie er bald danach mit der Sprache herausrückt. Aber er will für mich tätig werden und alles organisieren – ich würde schon bald raus sein aus allem. Ein Ende der Verantwortung ist in Sicht.

      Nachdem er wieder fort ist, verspüre ich eine unglaubliche Erleichterung in mir. Bald also wird alles vorbei sein: die Kundenkorrespondenz, die Abrechnungen, die Nachfragen, die Mails, die Kündigungen, die Vertragsverlängerungen, eben all das, was meinen Alltag über so viele Jahre ausgemacht und bestimmt hat. Das wird dann endlich der Vergangenheit angehören – und damit ein großes Kapitel meines Lebens abgeschlossen sein.

      Überraschend schnell wird mein Vater aktiv, macht sich zahlreiche Geschäftskontakte zunutze, steht schon bald in Verhandlungen mit diversen Interessenten über den Verkauf meiner Geschäftsgebiete. Mein Unternehmen lief immer gut, ich hatte über all die Jahre meiner Selbstständigkeit viel Zeit und Engagement investiert und das hat sich rasch in guten Umsatzzahlen niedergeschlagen. Mein Name stand in der Branche für Qualität, für persönliche Betreuung und für ständige persönliche Präsenz, was sich glücklicherweise nun auszahlte. Gleich mehrere Interessenten wollen die Lizenzen und Gebiete erwerben, mein Vater, mit allen Wassern gewaschener Geschäftsmann, der er nun mal ist, treibt den Preis ganz schön in die Höhe, wie ich erleichtert erfahre. So habe ich alle Zeit der Welt zu entscheiden, wie es beruflich mit mir weitergehen soll. Ohne Probleme kann ich diese Gedanken einfach noch ein Jahr hinausschieben. Plötzlich verspüre ich Lust auf Urlaub.

      Mittlerweile ist es März geworden. Wenn alles glatt läuft, hoffe ich, den Unternehmensverkauf in zwei bis drei

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