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      Nach Vaters Tod wuchs in mir langsam, aber sehr bestimmt der Hass gegen die bestehende Gesellschaftsordnung und gegen meine Mutter. Eingeschüchtert und ihrer Biographie wegen im Visier der Obrigkeit, schärfte sie mir jeden Morgen vor der Schule ein, gewissenhaft alles aufzunehmen, was die Lehrer lehrten, nicht zu widersprechen und mich aktiv bei den Pionieren und später im Komsomol zu beteiligen. Der Hintergrund meines Stiefvaters – eines Kämpfers der siegreichen Sowjetarmee im Großen Vaterländischen Krieg – schützte meine Mutter. Ein Hintergrund, der mit der roten Farbe der Wahrheit einen anderen Hintergrund übermalt hatte: dass er im unabhängigen Lettland im Wachdienst des Präsidenten angestellt war und dass sein Bruder sich freiwillig zur deutschen Armee gemeldet hatte. Bruder gegen Bruder: die blutige Polka der Geschichte.

      Spätabends in der Küche sprachen meine Mutter und mein Stiefvater über ihre Brüder. Der Bruder meines Stiefvaters war als Vaterlandsverräter mit dem Tod bestraft worden. Zuvor hatte man ihn wegen eines ihm selbst unbekannten Verrats gefoltert. Die russischen Hunde, sagte mein Stiefvater mit gepresster Stimme. Mir war das unerklärlich. Mit diesen Hunden war er doch Schulter an Schulter fast bis Berlin marschiert; zu den Feiertagen im Mai und November ging er auf die Kundgebungen dieser Hunde und bekam ein Päckchen mit Lebensmitteln, die man im Laden nicht kaufen konnte, zum Beispiel geräucherte Hartwurst, löslicher Kaffee und eingelegte Gurken und Tomaten aus dem Bruderland Bulgarien.

      Der Bruder meiner Mutter lebte gesund und munter in London, von wo wir Päckchen mit unerhörten Dingen erhielten: wunderschöne Stoffe, Garnrollen und Schnittmuster, nach denen meine Mutter Kleider schneiderte. Dort in London besaß mein Onkel eine Kleiderfabrik. Zweimal pro Jahr schrieb meine Mutter ein Gesuch an die sowjetischen Behörden mit der Bitte, ihren Bruder besuchen zu dürfen. Zweimal pro Jahr erhielt sie eine offizielle Antwort mit dem Bescheid: unbegründet, abgelehnt. Ihre zehn Jahre währende Korrespondenz mit den Behörden endete mit dem letzten Gesuch, dem um Erlaubnis, zur Beerdigung ihres Bruders nach London zu fahren. Auch darauf erhielt sie den Bescheid: unbegründet, abgelehnt.

      Ungeachtet dieser Absurditäten fuhr meine Mutter zielstrebig fort, mich auf die gerade Bahn einer rechtschaffenen und vertrauenswürdigen jungen Sowjetbürgerin zu lenken. Und genauso zielstrebig blühte in mir der Hass gegen diese ganze Scheinheiligkeit auf, die die Menschen zu einem Doppelleben zwang. Dazu, auf den Mai- und Novemberdemonstrationen Fahnen zu schwenken zum Lobpreis der Roten Armee, der stärksten Armee der Welt, der Revolution und des Kommunismus, und dann daheim in der Küche alles mit einem Gläschen wegzuspülen, sich zu bekreuzigen und auf die englische Armee zu warten, die über Bolderāja einmarschieren und Lettland vom russischen Joch befreien würde.

      Wenn ich meine heuchlerische Rolle in der Schule gewissenhaft erfüllt hatte, zog ich mich immer weiter in mich zurück und las das Lexikon der Medizin, das nach dem Tod des Professors in unseren Besitz gekommen war. Er hatte ganz allein in der Wohnung über uns gewohnt, und die neuen Mieter hatten seine Bibliothek einfach zum Fenster hinaus geworfen. Im Hof entstand rasch ein riesiger Bücherhaufen, von dem sich jeder nehmen konnte, was er wollte. Meine Mutter staunte nicht schlecht, als ich die Bände des großen Lexikons die Treppen hoch schleppte, machte aber keine Einwände, um die wachsende Kluft zwischen uns nicht noch zu vergrößern.

      Da war sie: die Wahrheit über das erbärmliche und heuchlerische Geschöpf, das man Mensch nannte. Ein Gewirr von Blutbahnen, aufgewickelte Därme, Drüsen und Sekrete, Lymphen und Arterien, Phalli und Vaginas, Hodensäcke und Gebärmütter.

      Die göttliche Wahrheit, in der so viele feine Lebensmechanismen zusammenwirkten, in der jeder Zufall zu einem Verhängnis werden konnte, aber es nicht wurde, denn dieses Gebilde war erschaffen zum Leben, nicht zum Sterben. Und der Tod war in dieser Geschichte nur ein zufällig unvermeidbarer Haltepunkt.

      *

      Wenn ich an meine Mutter denke, an ihre und meine Geburt, wird mir immer bewusst, dass alles so verdammt abhängig ist von den äußeren Umständen, die selbst entweder Folge eines ebenso verdammten Zufalls sind oder Teil eines großen, unverständlichen Plans. Ort und Zeit unserer Geburt bestimmen unser Leben. Wir hätten ein anderes Leben gehabt, wenn wir nur woanders geboren wären. Ich hätte zum Beispiel eines der Kinder sein können, die im August 1969 in Woodstock geboren wurden. Wie man weiß, sind während des Festivals drei Menschen gestorben – einer an einer Überdosis Heroin, der zweite wurde von einem Traktor überfahren und der dritte fiel von einem hohen Gerüst. Und zwei Kinder wurden geboren. Außerdem kamen neun Monate nach dem Festival noch Tausende Kinder auf die Welt, die in Woodstock gezeugt worden waren.

      In meiner Vorstellung sehe ich meine Mutter nicht als Medizinstudentin im sowjetischen Lettland, die sich ein Kind eingefangen hat, das sie nicht gewollt hatte, die durch das graue herbstliche Riga geht in einem zu engen Mantel, den der Bruder ihrer Mutter, den sie nie sehen wird, aus London geschickt hat. Der Mantel wird nur von einem Knopf über ihrem dicken Bauch zugehalten, ihre Stiefel sind schon stark abgetragen, und unterm Arm trägt sie ihre Mitschrift aus der Endokrinologie. Nicht so sehe ich sie, sondern mit langen glatten Haaren, einem bunten Stirnband, der dicke Bauch nur halb versteckt unter einer geblümten Bluse, darunter lockere Jeans. Alles ist anders: in diesem Paralleluniversum herrscht das Chaos der Freiheit, es duftet nach Gras und Sperma. The Who singen „See me, feel me“, und als das Lied beginnt, geht die Sonne auf. Freiheit und Welt kennen keine Grenzen. Vor lauter Glück und nach dem zweiten Joint setzen bei meiner Mutter die Wehen vorzeitig ein.

      Wenn auch die Geschichte ein solches Szenario unmöglich gemacht hatte, so war doch etwas von einem Blumenkind in meiner Mutter. Sie schreckte nicht vor Selbstexperimenten zurück und lebte häufig in einem alternativen Nebel – sowohl im wörtlichen Sinne, wenn sie etwas genommen hatte, als auch im übertragenen, wenn sie sich über die Beschränkungen des Zeitalters hinwegsetzte, in das sie hineingeboren war und in dem sie leben musste. Ich sehe sie noch vor mir, angetrunken, beschwipst vom Wein auf der Butterblumenwiese beim Hippodrom, in dem keine Pferde mehr liefen, sondern irgendwelche Werkstätten untergebracht waren. Das Hippodrom, das für sie Symbol eines anderen, glücklichen, unbeschwerten und freien Lebens war. Sie rannte durch die Butterblumen wie eine schöne junge Stute, und ich trottelte hinterher wie ein kleines Fohlen, wir fielen zusammen hin und meine Kinderwange stieß an die Mutterbrust. Sie war rund und weich, und ich presste meine Wange fester daran. So lagen wir dort, und Welt und Freiheit kannten keine Grenzen.

      Erst später, nach ihrem Tod, als die Zeit der großen Umbrüche hinter uns lag und das Leben meiner Mutter hätte beginnen können, jedoch endete, würde ich möglicherweise eine Ahnung von den Grenzen bekommen, die sie in ihrem Leben überschritten hatte. Und von der wichtigsten Grenze, der zwischen Leben und Tod, die sie bis ins Detail erfahren hatte, da sie täglich vor ihr stand und sich nicht fürchtete, sie zu überschreiten, zu der sie immer wieder zurückkehrte bis zum Moment der großen Trennung.

      *

      Ich durfte meinen Traum verwirklichen: ich wurde zum Medizinstudium zugelassen. Dafür sorgten wohl eine Reihe glücklicher Zufälle sowie die Besessenheit, mit der ich die Medizin verfolgte. Das medizinische Institut wurde von der unsichtbaren Mafia einer Ärztedynastie beherrscht. Sie beruhte auf der Tradition einiger jüdischer Familien, die den Krieg überlebt hatten, Generation für Generation gute Ärzte hervorzubringen. Wer nicht dazu gehörte, hatte es schwer, hier Fuß zu fassen. Aber ich war schwer aufzuhalten.

      Auf meinem Tisch zuhause stand der Schädel eines unbekannten Toten, den mein Stiefvater auf einem verlassenen Dorffriedhof ausgegraben hatte und der in diversen Flüssigkeiten gebadet wurde, bis er einen bläulichen Glanz bekam. Meine Mutter ertrug das alles heldenhaft und opferte sogar einen Topf aus ihrer Sammlung. Auge in Auge mit dem Schädel betete ich jeden Morgen und Abend das Knochen-Alphabet auf Lettisch und Lateinisch herunter. Das Keilbein, os sphenoidale; das Hinterhauptbein, os occipitale; das Schläfenbein, os temporale; das Scheitelbein, os parietale; das Stirnbein, os frontale; der Oberkiefer, maxilla; das Jochbein, os zygomaticum; das Gaumenbein, os palatinum; das Tränenbein, os lacrimale; das Nasenbein, os nasale; das Zungenbein, os hyoideum…

      Mein bester Freund war Leichen-Martin aus der Anatomie. Für einen Schnaps ließ er mich auch nachts in die abgeschlossenen Räume. Er fischte mir aus dem Formalinbecken den benötigten Körperteil, und ich konnte dann stundenlang daran herumschnippeln,

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