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Die Rückseite der Wahrheit. Riccardo del Piero
Читать онлайн.Название Die Rückseite der Wahrheit
Год выпуска 0
isbn 9783347033108
Автор произведения Riccardo del Piero
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Sie wirkte zufrieden.
„Und wieso sind Sie plötzlich so rasch mit dem Patienten verschwunden“, wollte sie wissen.
„Ach“, antwortete ich, „das war eine reine Bauchentscheidung.“
Inzwischen war Mitternacht vorbei. Da keine weiteren Notfälle mehr gemeldet wurden, gingen wir nach dem Aufräumen noch kurz in unser kleines Aufenthaltsräumchen innerhalb der Notfallstation, um uns etwas auszusprechen.
Nach einem Glas Mineralwasser ging ich in mein Dienstzimmer neben dem Helikopterlandeplatz. Todmüde legte mich aufs Bett, aber an Einschlafen war nicht zu denken. Ich war zu aufgewühlt. All die Ereignisse des Tages wirbelten mir durch den Kopf. Die Operationen, die Patienten und leider auch die Oberärzte. Gerne hätte ich Huber gegen seinen Kollegen von heute Abend eingetauscht.
Wie hatte Anita ihre Bemerkung, sie wolle mit mir fortfliegen, wohl gemeint? Will sie etwas von mir, fragte ich mich und antwortete dann gleich selbst: Bilde dir doch nichts ein, sie meint das nur im Scherz. Anita ist ein lustiges Mädchen, das nicht alles so ernst nimmt. Alles andere ist Selbstkoketterie.
„Martin, wie siehst du denn aus?“, begrüßte mich Anita frühmorgens am Tag danach. Ich steuerte eben wieder in meiner grünen Arbeitskleidung und mit kleinen Augen auf Operationssaal fünf zu.
„Sehr aufmunternde Frage. Ich sehe wohl nicht so aus wie nach zwei Wochen Urlaub.“
Anita schüttelte langsam den Kopf.
„Dabei habe ich doch mindestens zwei Stunden geschlafen. Es muss wohl an diesem unbequemen Bett im Dienstzimmer liegen.“
Nach 24 Stunden war zwar mein Notfalldienst zu Ende, aber es war noch lange nicht Feierabend oder eben Feiermorgen, sondern es wurde voll weitergearbeitet, weitere neun Stunden Einsatz. Das ging an die Substanz. Ich funktionierte an solchen Tagen zwar weiter, doch die Müdigkeit klebte wie ein Rucksack an mir. Und diesen wurde ich von frühmorgens bis abends nicht mehr los.
Anita blieb das Lachen im Hals stecken. Huber tauchte auf.
„Ach, das gehört eben zum Beruf. Du wirst es überleben. Klage nicht immer über den anstrengenden Dienst, sonst musst du vielleicht über einen Berufswechsel nachdenken. Für dich sollte die Arbeit einen hohen Freizeitwert darstellen“, meinte er in seiner bekannten belehrenden Manier.
„Auch Freizeitaktivitäten können nach einer Erholung rufen“, konterte ich.
„Beginn jetzt besser mal mit der Arbeit, sonst bedarf ich einer Erholung.“ Huber wandte sich leicht entnervt zum Gehen.
„Würde ich sehr gerne, aber der Patient ist noch nicht eingetroffen … wie so oft.“
Meinen letzten Satz hörte der Oberarzt vermutlich nicht mehr.
Die morgendlichen Narkosen verliefen gut, doch im Laufe des Nachmittages fühlte ich mich immer matter und sehnte den Feierabend herbei.
Um 18 Uhr war es dann endlich soweit. In dem Moment wusste ich gar nicht mehr genau, was ich an diesem Tag alles getan hatte. Bestenfalls erinnerte ich mich an die letzten beiden Stunden.
Neue Kraft schien mir zu erwachsen, als ich die Kliniktüre öffnete. Die Türe, die mich in den vergangenen eineinhalb Tagen hermetisch von der Außenwelt abtrennte. Inzwischen war es für mich die Pforte zwischen Arbeit und Freizeit geworden, zum Symbol zwischen Realitäts- und Lustprinzip.
Ein kleiner Schritt für mich, doch ein großer für mein Freiheitsempfinden, dachte ich, als ich genüsslich über die Schwelle in die wiedergewonnene Unabhängigkeit trat. Nach der ruhigen Spitalatmosphäre empfing mich Zürichs Straßenlärm wieder mit Feierabendverkehr, hetzenden Passanten und gut gelaunten Studenten, die in Grüppchen nach Hause spazierten.
Ich atmete tief ein. Die frische, kühle Luft war eine Wohltat, und die Anspannung wich einer wohligen Müdigkeit und Zufriedenheit, dem Gefühl, etwas Sinnvolles geleistet zu haben.
Es war ein kühler Märzabend, wie ich erst jetzt feststellte. Im Neonlicht der Klinik, im abgeschotteten Operationstrakt mit seinen spärlichen Fenstern, bemerkte ich meistens gar nicht, was sich draußen abspielte.
Ich raffte mich zu einem kleinen Spaziergang am See auf. Es reichte für ein bisschen Abendsonne, die den Kampf gegen die Hochnebelfelder am Ende des Tages gewann, und ich genoss eine frische Brise Seeluft am Hafen Enge, wenngleich ich bis zum Bürkliplatz erst einmal abgasreiche Zürcher Stadtluft einatmete. Schließlich setzte ich mich auf eine Bank und beobachtete Schwäne, Enten und Möwen. Die majestätischen Schwäne faszinierten mich seit jeher. Danach fuhr ich mit der Straßenbahn Richtung Zürcher Zoo. In der Nähe hatte ich eine DreiZimmer-Wohnung gemietet. Zwar waren die Räume recht klein, und die Miete fraß einen großen Teil meines bescheidenen Lohnes, aber ich war froh, endlich eigene vier Wände gefunden zu haben.
Diese Wohnung war ein reiner Glücksfall gewesen, ideal gelegen, nahe der Straßenbahn. Nur ein kurzer Weg war’s zur Arbeit.
Müde und zufrieden betrat ich mein herrlich unsteriles Zuhause.
Als Erstes riss ich den Brief mit Absender Spital Limmattal, Chefarzt Innere Medizin auf. Das musste die Antwort auf meine Bewerbung sein. Meine Spannung stieg und verpuffte beim vierten Wort: Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass … Es folgten die üblichen Floskeln, wie ich sie zur Genüge kannte. War es die 16. oder 17. Absage, überlegte ich kurz.
Egal, ich werde mich ab jetzt auch in Kliniken im weiteren Umkreis von Zürich bewerben müssen. So nahm ich meine Liste der Spitäler zur Hand und beschloss, gleich an diesem Abend eine Bewerbung für das Kantonsspital Aarau zu schreiben.
In der übrigen Post suchte ich vergeblich nach einem persönlichen Brief, doch in den Umschlägen fanden sich nur Rechnungen und Werbung.
Abgespannt warf ich mich in den Sessel und ließ die Blicke über das kreative Chaos meiner Drei-Zimmer-Wohnung schweifen. Die Müdigkeit steigerte sich, und die Lust, etwas zu kochen oder auswärts essen zu gehen, tendierte gegen null. Blieb nur, den Kühlschrank zu plündern. Doch bei nur geringem Inhalt, war das rasch erledigt. Der einzige Joghurt entpuppte sich als Pilzkultur, die ich naserümpfend entsorgte.
Es war ein seltsames, immer noch ungewohntes Gefühl, alleine in der Wohnung zu sein. So saß ich am Esstisch und knabberte hartes Brot und Käse.
Danach legte mich aufs Sofa und schlief innerhalb kürzester Zeit ein. Das Telefon weckte mich gegen acht Uhr. Zunächst überlebte ich mindestens fünf Klingeltöne lang, ob ich mich aus meiner bequemen Position erheben sollte. Schließlich war, wie fast immer, die Neugier größer als die Trägheit. Ich hatte das Gefühl, es könnte einer meiner Studienkollegen sein. Möglicherweise der Glückspilz, der in der Pathologie eine ruhige Kugel schob. Alle anderen waren stark eingespannt und vielbeschäftigt. Ich folgte meiner inneren Stimme und hob den Hörer ab.
Aber mein Vater war am Apparat. Er interessierte sich für Medizin, seit ich mein Studium begonnen hatte. Häufiger wollte er wissen, wie es mir in der Klinik ging. Doch zunächst erzählte er mir von seinem Ärger im Büro.
„Den Stahel, den werde ich morgen entlassen“, donnerte er durch die Leitung.
„Aber Papi, das sagst du doch schon seit mindestens fünf Jahren.“
„Möglich, aber morgen mach ich ernst.“
Mein Vater war viel zu gutmütig, um jemanden zu feuern, aber er brauchte einen Menschen wie mich, dem er seinen Kummer mitteilen konnte.
„Und wie geht es dir in der Klinik?“, fragte er mit der natürlichen Fürsorglichkeit eines Vaters.
„Ich habe einen anstrengenden Nachtdienst hinter mir, doch es hat sich gelohnt, wir haben wieder einmal ein Leben gerettet“, erklärte ich stolz.
Das hatte ich nun davon. Ich musste die Geschichte mit der Milzruptur in allen Details schildern, und mein Vater freute sich mit.
„Kannst du den Radiowecker, den ich dir zum Geburtstag geschenkt habe, gebrauchen?“,