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besser ertragen.

      Mein erster Eindruck von Walker war allerdings etwas zwiespältig; er schien mir ein eitler Geck zu sein. Erst mit der Zeit schaute ich weniger auf Äußerlichkeiten. Walker pflegte seine Erscheinung minutiös. Die blonden Haare waren stets mit Sorgfalt gekämmt. Trotzdem fuhr er sich recht häufig mit den Fingern durch sein Haar – eine typische Handbewegung für ihn –, sofern er nicht die obligate Mütze im OP trug. Es war deshalb gar nicht verwunderlich, dass ich Walker, als ich ihn das erste Mal im Operationssaal gesehen hatte, wegen dieser Haube nicht gleich erkannte. Er kam mir manchmal wie ein Schauspieler vor. Vom Aussehen her hätte es fast dazu gereicht. Die Nase war vielleicht etwas zu lang geraten, und die Lippen ein wenig zu wulstig angelegt.

      Thomas Walker wollte in der grünen Welt bleiben. Die plastische Chirurgie war sein Berufsziel; und die Anästhesie war für ihn bloß das Sprungbrett für seine weitere Karriere, die er genauestens plante.

      „Sag mal, ist der Huber zu dir auch mal oberfreundlich und dann wieder unmöglich kaltschnäuzig und aggressiv belehrend?“, fragte ich.

      „Ach, den Huber, den musst du einfach nehmen wie er ist. Der hat offenbar heute nicht seinen besten Tag. Bisher hatte ich noch keine Probleme mit ihm.“

      „Glück gehabt. Vorhin hat er mich wie einen Schulbuben über Schilddrüsenoperationen ausgefragt.“

      „Aha, das ist Hubers Lieblingsthema. Jeden fragt er darüber aus, das hat mir ein älterer Kollege erzählt. Du musst einfach wissen: kein Atropin zur Prämedikation, Spiralfedertubus und postoperativ die Stimmbänder kontrollieren. Wenn du so antwortest, ist Huber zufrieden, und du hast deine Ruhe.“

      „Das hättest du mir auch früher sagen können!“

      „Ja, natürlich, leider habe ich nicht daran gedacht, entschuldige. Aber merk es dir für das nächste Mal, denn er beginnt seine Fragen meistens so: Hast du übrigens gewusst, dass …, und dann antwortest du einfach mit ja. Das habe ich bis jetzt so gemacht, obwohl ich es natürlich auch nicht gewusst habe.“

      Ich staunte über Thomas, denn solche kleinen Unredlichkeiten hätte ich ihm nicht zugetraut.

      „Weißt du“, fuhr ich fort, „ich kann das nicht. Ich bringe das nicht fertig, etwas zu behaupten, das nicht stimmt. Wenn ich etwas nicht weiß, dann weiß ich es eben nicht und stehe dazu.“

      „Dann geh dem Huber eben einfach aus dem Weg“, meinte Walker schulterzuckend.

      „Na ja, aber der zweite Oberarzt hier, du weißt schon, man nennt ihn den Blassen, ist auch nicht viel besser. Ehrlich gesagt habe ich große Mühe, mich zu entscheiden, wer von den beiden etwas sympathischer sein könnte.“

      Walker stand nur da, zuckte die Schultern und lächelte verschmitzt.

      „Pass auf, da kommen die beiden schon wieder!“

      Ich schaute mich aufgeschreckt um, sah allerdings keine Oberärzte. Walker hatte mich reingelegt.

      Ich revanchierte mich mit einem kollegialen, schwach dosierten Boxhieb auf seine Schulter. Wir verabredeten uns für den Abend in der Kantine, und ich wandte mich wieder meinem Patienten zu.

      Es folgte die Narkoseeinleitung, der spannendste Moment der Narkose. Natürlich war im entscheidenden Augenblick kein Oberarzt zugegen. Weder Huber noch sein blasser Kollege waren auffindbar. In dieser, für mich neuen, Situation hätte ich gar ihre Sprüche in Kauf genommen, denn die Beatmung konnte in solchen Fällen schwierig werden, weil die vergrößerte Schilddrüse häufig die Luftröhre verengte.

      „Schlafen Sie gut“, sprach Anita beruhigend, wie sie es immer tat, und nur kurze Zeit später verlor der Patient von einem Moment zum anderen das Bewusstsein. Die schmale Gratwanderung zwischen Leben und Tod begann, und ich wurde mir in diesem Moment meiner Verantwortung für den Patienten wieder voll bewusst. Oft spürte ich diese Belastung. Doch augenblicklich musste ich solche Gedanken verdrängen, denn meine Arbeit verlangte volle Konzentration. Trotzdem, der Verantwortungsdruck lastete weiter auf meinen Schultern. Mit zunehmender Erfahrung und Geschicklichkeit ließ die Intensität etwas nach, doch ich sehnte mich häufig danach, den Druck auf mehrere Schultern verteilen zu können. Da die Oberarztschulter bestenfalls theoretisch stützte, blieben da nur die etwas zarten Schultern von Anita. Bisher wusste ich nicht, wie viel sie zu tragen vermochten. Sicher aber war Schwester Anita eine moralische Stütze. Ich arbeitete gerne mit ihr zusammen und glaubte, es beruhte auf Gegenseitigkeit.

      Wir arbeiteten Hand in Hand, und die kritische Startphase verlief nahezu perfekt. Mühelos konnte ich intubieren3. „Der Patient schläft bereits tief!“, stellte ich fest.

      „Jetzt kommst auch du noch mit diesem Anästhesisten-Standardsatz. Unser Patient schläft eben nicht, er ist bereits weiter weg von uns als im Traum, er ist in Narkose“, widersprach Anita.

      „Besserwisserin!“

      Humor war eine Art, sich des Druckes zu entledigen. Es entschärfte die Situation.

      Bisher hatten die Chirurgen das Operationsfeld peinlichst genau desinfiziert und mit grünen Tüchern so zugedeckt, dass nur noch jene Stelle am Hals sichtbar war, wo die Schilddrüse lag. Die OP begann, und auch dieser Eingriff dauerte und dauerte.

      Zwischendurch löste mich Anita für eine Pause ab. Nach etwa dreieinhalb Stunden wurden die letzten Nähte gesetzt und das Operationsgebiet verbunden. Schrittweise hatte ich die Narkosegase reduziert, und der Patient erwachte, kaum dass die Operation beendet war. Dieser beeindruckende Moment ließ mich nach all der Anspannung stets aufs Neue staunen. Der Patient gab vorerst nur unverständliche Laute von sich.

      „Er ist noch ganz schlaftrunken“, flüsterte Schwester Anita, während sie mir assistierte.

      „Wohl eher narkosetrunken!“, bemerkte ich.

      „Wie spät ist es?“, waren die ersten, noch leisen, aber klaren Worte des Frischoperierten.

      „Dreizehn Uhr“, antwortete ich.

      „Eigentümlich“, meinte Anita, „häufig kommt als erstes die Frage nach der Uhrzeit!“

      „Wohl weil wir alle unter einem gewaltigen Zeitdruck stehen.“

      „Dann geh jetzt rasch zum Mittagessen, in einer halben Stunde schon geht es weiter“, mahnte mich Anita.

      Huber saß bereits in der Kantine als ich einen Platz suchte. Mein Hunger war zu groß, als dass die Atmosphäre mir den Appetit hätte verderben können. Wir Anästhesisten saßen beim Mittagessen meist in der gleichen Ecke des Personalrestaurants, Schwestern und Ärzte alle am selben Tisch. Ich setzte mich zu ihnen. Nur Huber und sein Kollege, der auch nicht viel besser war, saßen wie gewohnt separat. Alleine an einem kleinen Tisch, in der anderen Ecke des Saales. Nachdem Huber Oberarzt wurde, saß er nicht mehr mit uns zusammen.

      Der zweite Oberarzt wirkte noch blasser und unfreundlicher als sonst. Der Vergleich zu einem Vampir aus einem Horrorfilm drängte sich förmlich auf; allein die spitzen Eckzähne fehlten.

      Die Mittagspause tat gut, denn für meinen bevorstehenden Nachtdienst, wollte ich noch etwas neue Kräfte tanken. Fast jede Woche stand für uns Assistenzärzten ein 24-Stunden-Notfallpräsenzdienst auf dem Plan. Die Arbeit von morgens um sieben Uhr dreißig bis in die Nacht hinein war schon rein physisch sehr beanspruchend, dazu kam die anhaltende psychische Anspannung. Nur allmählich gewöhnte ich mich an diesen Rhythmus.

      Zunächst stand allerdings die Arbeit des Nachmittages bevor. Im Operationstrakt war etwas Ruhe eingekehrt, weil nicht mehr in allen fünf Sälen operiert wurde.

      Nach der letzten Narkose legte ich die grüne Operationswäsche ab und tauschte sie wieder mit der weißen Berufskleidung. So fühlte ich mich etwas wohler. Während ich die grüne Welt verließ, überlegte ich, warum man dort die Farbe Grün gewählt hatte. Wirkten Blutflecken auf Grün weniger dramatisch und furchterregend als auf neutralem Weiß? Grün als Komplementärfarbe für rot wie Blut; oder war es eher der beruhigende Effekt, der Grün als Farbe der Hoffnung zugeschrieben wurde, die Assoziation zur Natur, Idylle suggerierend? Vielleicht hatte es rein

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