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Nicht Magus. Magus war ein charmanter und zuvorkommender Mann. Der charmanteste und zuvorkommendste Mann, den sie je getroffen hatte. Wie liebevoll er sich erst neulich um Florian gekümmert hatte, als sie selbst so spät nach Hause gekommen war. Für ihren Sohn war er inzwischen ein echter Freund und, Charlotte lächelte, es gefiel ihr sich einzugestehen, dass er das inzwischen auch für sie geworden war.

      Durch Zufall hatte sie erfahren, dass Magus in der Filmbranche arbeitete. Sicher war er sehr reich. Bestimmt führte er ein aufregendes Leben. Der Abstand zwischen ihnen beiden war so überwältigend groß, dass sie ihn beruhigt mit größtem Wohlgefallen betrachten konnte, ohne durch ihn in Gefahr zu geraten. Als genau der geeignetste Mann in ihrer Umgebung, in den sie sich hätte verlieben können, war er genau der Mann, in den sie sich nie verlieben würde.

      Sie mochte Magus. Magus mochte sie. Dass er ihr Geschenke machte, kleine Geschenke, und sie diese annahm, war in Ordnung. Im Grunde bereitete sie ihm damit eine Freude, denn obwohl er so erfolgreich war, schien er sonst kaum Freunde zu haben.

      Auch in diesem Punkt waren sie sich beide sehr ähnlich, erkannte Charlotte. Denn obwohl sie nie darüber sprachen, war offenkundig, dass sie beide ein recht einsames Leben führten.

      Unschlüssig nahm sie Magus’ Buch wieder zur Hand und betrachtete es wie einen Spiegel. Wie es wohl wäre, mit jemanden wie Magus zusammen zu sein? Sie kicherte. Vor ihrem inneren Auge entspann sich ein wunderschöner Kinofilm. In materieller Hinsicht wäre ihr Leben auf einen Schlag unbeschwerter. Sie sah sich verheiratet mit Teilzeitjob und mindestens einer Fernreise im Jahr. Hemmungslos fügte sie ihrem Drehbuch ein großzügiges Eigenheim hinzu, eine teure Hi-Fi-Anlage, immer funktionstüchtige Küchengeräte und ein rasantes Zweitauto in der Garage. Ihre Ausstattungswut kannte keine Grenzen. Sie fügte ihrem Traumgespinst noch ein eigenes Ankleidezimmer hinzu, in dem natürlich nicht nur die edelsten Designerklamotten hingen, sondern auch ein riesiger Schrank voller Schuhe stand. Charlotte schämte sich. Ein Mann wie Magus würde ihr selbstverständlich all diese Dinge zu Füßen legen, aber dazu müsste er sie lieben. Und sie müsste ihn lieben.

      Neue Szenen taten sich vor ihrem inneren Auge auf. Szenen, in denen sie an der Seite eines vertrauten Partners einschlief, um am nächsten Morgen genauso vertraut zu erwachen, Momentaufnahmen von einem sonnigen Sonntagmorgenfrühstück am Familientisch, von guten Gesprächen, küssend beigelegten kleinen Streitereien, wiederkehrenden Ritualen, kleinen Gesten, der ehrlich gestellten Frage, wie es ihr gehe.

      Ach was! Charlotte erhob sich von der Couch und warf Magus’ Buch verärgert auf den Couchtisch, wo es unsanft aufschlug. Ihre Welt, das war das Hier und Jetzt, das andere waren nur Phantasien. Was hatten all diese fiktiven Figuren aus den fremden Geschichten mit ihrem Leben gemeinsam?

      Ja, es ging ihr so viel besser als jeder dieser Romanfiguren. Anders als diese blassen papiernen Gestalten, für die von Anfang bis Ende kein Ausweg vorgesehen war, konnte sie ihr Leben selbst bestimmen.

      Welch ein Glück! Ihr Leben war kein Buch, kein Roman. Hier hielt sie selbst die Feder in der Hand.

      Seufzend griff sie nach Magus’ Buch und platzierte es liebevoll im Regal. Für heute war sie eindeutig zu müde, um sich noch auf eine einzige geschriebene Zeile zu konzentrieren. Zu müde, um Herrin ihrer Gefühle zu sein. Morgen würde sie es erneut versuchen.

       5

      unkt zwölf trafen sie sich bei Magus’ Lieblingsitaliener. Der Wirt, der überrascht war, seinen Stammgast schon so bald wiederzusehen, eilte ihnen gleich erfreut entgegen und begrüßte sie mit einem lebhaften Handschlag. Aufmerksam führte er sie zu Magus’ bevorzugtem Tisch und bat sie Platz zu nehmen. Ron, der gleich anheben wollte zu erzählen, wurde von Magus mit leicht erhobener Hand dezent aber bestimmt unterbrochen.

      „Erst der Wein. Dann die Bestellung. Dann erzählst du“, arrangierte er den Ablauf.

      Widerstandslos fügte sich sein Cousin in diese Inszenierung. Es war auch in seinem Sinne, die Dinge behutsam angehen zu lassen. Magus hatte recht, wenn er ihm diese langsame Gangart vorschrieb. So konnte er in Gedanken sein unglaubliches Erlebnis noch einmal Revue passieren lassen und alle Fakten ordnen, bevor er sie vor Magus ausbreitete.

      Magus an seiner Seite zu wissen, war ihm auf einmal ungeheuer wichtig. Denn er war nicht nur der Einzige, den er hier kannte und dem er erzählen konnte, was passiert war, er schien ihm auch der Einzige zu sein, dem zuzutrauen war, dass er seine merkwürdige Geschichte glauben könnte. Dieser Magus, den er seit seinen Kindertagen nicht mehr gesehen hatte, rief noch immer eine besondere Vertrautheit in ihm wach. Er erinnerte sich, dass dieser Sohn seiner jung verstorbenen Tante mütterlicherseits in ihm immer schon ein besonderes brüderliches Vertrauen geweckt hatte, das er sonst zu keinem seiner zahlreichen Cousins oder Cousinen hatte aufbringen können. Magus, der stets etwas anders war als die Anderen, der zu jeder Zeit ein wenig außerhalb der Szenerie stand und mehr ein Beobachter als ein Handelnder zu sein schien, war schon damals der prädestinierte Zuhörer gewesen. Er war jemand, dem man sich gerne anvertraute, weil man unbewusst ahnte, dass ihn nichts wirklich verwunderte und dass er auch kein Interesse hatte, mit Geheimnissen hausieren zu gehen.

      Gemeinsam degustierten sie den von Magus vorgeschlagenen Wein und langsam lockerte sich Rons Anspannung. Vertrauensvoll überließ er dem älteren Cousin die weitere Bestellung.

      „Du scheinst mir hier häufiger zu sein. Ich verlasse mich gerne auf deine Empfehlung.“

      „Ich werde dein Vertrauen in keiner Weise enttäuschen“, versprach Magus ernst und winkte den Wirt heran. Das fünfgängige Menü, das er nun bestellte, würde ihnen ausreichend Raum und Zeit für Rons Geschichte lassen. Der Wirt trat ab und Ron wusste, dass nun der Moment für seinen Einsatz gekommen war. Präzise berichtete er: von seiner Fahrt mit der Straßenbahn, von der unerwarteten Begegnung mit der schönen Unbekannten, seiner spontanen, ihn selbst überraschenden Initiative ihr zu folgen und wie er in den befristeten Besitz des Shakespeare-Dramas Romeo und Julia gekommen war.

      Magus rieb sich erwartungsvoll die Hände.

      „Und? Das ist doch nicht alles, was dich so aus der Fassung bringt, oder?“

      Ron zögerte kurz, holte tief Luft und lieferte Magus ohne einmal abzusetzen einen langen, detaillierten Abenteuerbericht, der damit endete, dass er sich nach seinem Abschied von Benvolio, so plötzlich wie man aus einem Traum erwacht, in seiner Wohnung wiedergefunden hatte.

      „Nun denn“, nickte Magus anerkennend. „Ich gebe zu, du bist der Erste, der mir eine solche Geschichte auftischt.“

      „Du glaubst mir nicht, oder?“ Ron war bereit, auf Unverständnis zu stoßen und signalisierte vorsichtig seinen Rückzug. „Ich könnte es wirklich verstehen, wenn du mir nicht glaubst. Ich glaube ja selbst kaum, was mir da passiert ist.“

      „Und dennoch empfindest du das Ganze als völlig real, nicht wahr?“

      „So real wie alles andere auch in meinem Leben.“

      „Dann ist ja alles klar. Ich glaube dir. Auch wenn das mindestens so verrückt klingt wie deine Geschichte. Aber warum solltest du lügen? Ich kann darin keinen Nutzen für dich sehen.“

      Eine Woge der Erleichterung erfasste Ron.

      „Ich hatte gewünscht, aber nie gehofft, dass du das sagst“, flüsterte er gerührt.

      Der Wirt, der spürte, dass von ihm nur eine stumme Rolle erwartet wurde, brachte schweigend frisches Brot und Butter sowie einige Oliven und zog sich rasch wieder zurück.

      Einvernehmlich begannen sie zu speisen. Alles in allem war Ron sehr froh über dieses Treffen. Schon lange hatte er nicht mehr in so vertrauter Gesellschaft gegessen. Und noch länger hatte er nicht mehr über so persönliche Dinge gesprochen. Es erstaunte ihn überhaupt nicht, dass es ausgerechnet Magus war, den er heute seit unzähligen Jahren das erste Mal wiedersah, mit dem ihm dieses außergewöhnliche Gefühl der Freundschaft und des gegenseitigen Vertrauens verband. Plötzlich erkannte er beschämt sein Versäumnis der letzten Jahre. Wie wenig hatte

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