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Rubinrot. Керстин Гир
Читать онлайн.Название Rubinrot
Год выпуска 0
isbn 9783401800141
Автор произведения Керстин Гир
Жанр Учебная литература
Издательство Readbox publishing GmbH
»Natürlich bist du das!«
»Das musst du gerade sagen, Gen-Trägerin!«
»Ich quatsche das schließlich nicht überall herum«, sagte Charlotte. »Du hingegen bist wie Großtante Mad-Maddy. Die erzählt sogar dem Milchmann von ihren Visionen.«
»Du bist gemein.«
»Und du bist naiv.«
Streitend liefen wir durch die Vorhalle, vorbei am gläsernen Kabuff unseres Hausmeisters, hinaus auf den Schulhof. Es war windig und der Himmel sah aus, als ob es jeden Augenblick zu regnen anfinge. Ich bereute, dass wir nicht doch unsere Sachen aus den Spinden geholt hatten. Ein Mantel wäre jetzt gut gewesen. »Tut mir leid, der Vergleich mit Großtante Maddy«, sagte Charlotte etwas zerknirscht. »Ich bin wohl doch etwas aufgeregt.« Ich war überrascht. Sie entschuldigte sich sonst nie.
»Kann ich verstehen«, sagte ich schnell. Sie sollte merken, dass ich ihre Entschuldigung zu würdigen wusste. In Wahrheit konnte von Verständnis natürlich keine Rede sein. Ich an ihrer Stelle hätte vor Angst geschlottert. Aufgeregt wäre ich zwar auch gewesen, aber ungefähr so aufgeregt wie bei einem Zahnarztbesuch. »Außerdem mag ich Großtante Maddy.« Das stimmte wirklich. Großtante Maddy war vielleicht ein bisschen redselig und neigte dazu, alles viermal zu sagen, aber das war mir tausendmal lieber als das geheimnisvolle Getue der anderen. Außerdem verteilte Großtante Maddy immer großzügig Zitronenbonbons an uns.
Aber klar, Charlotte machte sich natürlich nichts aus Bonbons. Wir überquerten die Straße und hasteten auf dem Bürgersteig weiter.
»Starr mich nicht so von der Seite an«, sagte Charlotte. »Du wirst schon merken, wenn ich verschwinde. Dann machst du dein blödes Kreidekreuz und rennst weiter nach Hause. Aber es wird gar nicht passieren, nicht heute.«
»Das kannst du doch gar nicht wissen. Bist du gespannt, wo du landen wirst? Ich meine, wann?«
»Natürlich«, sagte Charlotte.
»Hoffentlich nicht mitten im großen Brand 1664.«
»Der große Brand von London war 1666«, sagte Charlotte. »Das kann man sich doch wirklich leicht merken. Außerdem war dieser Teil der Stadt damals noch gar nicht großartig bebaut, ergo hat hier auch nichts gebrannt.«
Sagte ich schon, dass Charlottes weitere Vornamen »Spielverderberin« und »Klugscheißerin« waren?
Doch ich ließ nicht locker. Es war vielleicht gemein, aber ich wollte das blöde Lächeln wenigstens für ein paar Sekunden von ihrem Gesicht radiert sehen. »Wahrscheinlich brennen diese Schuluniformen wie Zunder«, bemerkte ich angelegentlich.
»Ich wüsste, was ich zu tun hätte«, sagte Charlotte knapp und ohne das Lächeln einzustellen.
Ich konnte nicht anders, als sie für ihre Coolness zu bewundern. Für mich war die Vorstellung, plötzlich in der Vergangenheit zu landen, einfach nur Angst einflößend.
Egal zu welcher Zeit, früher war es doch immer fürchterlich gewesen. Ständig gab es Krieg, Pocken und Pest, und sagte man ein falsches Wort, wurde man als Hexe verbrannt. Außerdem gab es nur Plumpsklos und alle Leute hatten Flöhe und morgens kippten sie den Inhalt ihrer Nachttöpfe aus dem Fenster, ganz gleich, ob da unten gerade jemand langging.
Charlotte war ihr ganzes Leben lang darauf vorbereitet worden, sich in der Vergangenheit zurechtzufinden. Sie hatte nie Zeit zum Spielen gehabt, für Freundinnen, Shopping, Kino oder Jungs. Stattdessen hatte sie Unterricht erhalten im Tanzen, Fechten und Reiten, in Sprachen und Geschichte. Seit letztem Jahr fuhr sie überdies jeden Mittwochnachmittag mit Lady Arista und Tante Glenda fort und kam erst spätabends zurück. Sie nannten es »Mysterienunterricht«. Über die Art der Mysterien wollte uns allerdings niemand Auskunft geben, am wenigsten Charlotte selber.
»Das ist ein Geheimnis«, war wahrscheinlich der erste Satz gewesen, den sie fließend hatte sprechen können. Und gleich danach: »Das geht euch gar nichts an.«
Leslie sagte immer, unsere Familie habe vermutlich mehr Geheimnisse als Secret Service und MI 6 zusammen. Gut möglich, dass sie recht hatte.
Normalerweise nahmen wir den Bus von der Schule nach Hause, die Linie 8 hielt am Berkeley Square und von dort war es nicht mehr weit bis zu unserem Haus. Heute liefen wir die vier Stationen zu Fuß, wie Tante Glenda es angeordnet hatte. Ich hielt den ganzen Weg lang die Kreide gezückt, aber Charlotte blieb an meiner Seite.
Als wir die Stufen zur Haustür erklommen, war ich beinahe enttäuscht. Hier endete nämlich mein Part an der Geschichte schon wieder. Ab jetzt würde meine Großmutter die Sache übernehmen.
Ich zupfte Charlotte am Ärmel. »Sieh mal! Der schwarze Mann ist wieder da.«
»Na und?« Charlotte sah sich nicht mal um. Der Mann stand gegenüber im Hauseingang von Nummer 18. Er trug wie immer einen schwarzen Trenchcoat und einen tief ins Gesicht gezogenen Hut. Ich hatte ihn für einen Geist gehalten, bis ich bemerkt hatte, dass meine Geschwister und Leslie ihn auch sehen konnten.
Er beobachtete seit Monaten beinahe rund um die Uhr unser Haus. Möglicherweise waren es auch mehrere Männer, die sich abwechselten und genau gleich aussahen. Wir stritten uns darüber, ob es sich um spionierende Einbrecher, Privatdetektive oder einen bösen Zauberer handelte. Letzteres war die feste Überzeugung meiner Schwester Caroline. Sie war neun und liebte Geschichten mit bösen Zauberern und guten Feen. Mein Bruder Nick war zwölf und fand Geschichten mit Zauberern und Feen blöd, deshalb tippte er auf die spionierenden Einbrecher. Leslie und ich waren für die Privatdetektive.
Wenn wir aber auf die andere Straßenseite gingen, um uns den Mann näher anzuschauen, verschwand er entweder im Haus oder er stieg in einen schwarzen Bentley, der am Bordstein parkte, und fuhr davon.
»Das ist ein Zauberauto«, behauptete Caroline. »Wenn niemand hinschaut, verwandelt es sich in einen Raben. Und der Zauberer wird zu einem winzig kleinen Männlein und reitet auf seinem Rücken durch die Luft.«
Nick hatte sich das Nummernschild des Bentleys notiert, für alle Fälle. »Obwohl sie das Auto nach dem Einbruch sicher umlackieren und ein neues Nummernschild montieren werden«, sagte er.
Die Erwachsenen taten so, als ob sie nichts Verdächtiges daran finden konnten, Tag und Nacht von einem schwarz gekleideten Mann mit Hut beobachtet zu werden.
Charlotte ebenfalls. »Was ihr nur immer mit dem armen Mann habt! Er raucht dort eine Zigarette, das ist alles.«
»Na klar!« Da glaubte ich ja noch eher die Version mit dem verzauberten Raben.
Es hatte angefangen zu regnen, keine Minute zu früh.
»Ist dir wenigstens wieder schwindelig?«, fragte ich, während wir darauf warteten, dass uns die Tür geöffnet wurde. Einen Hausschlüssel besaßen wir nicht.
»Nerv nicht so rum«, sagte Charlotte. »Es passiert, wenn es passieren soll.«
Mr Bernhard öffnete uns die Tür. Leslie meinte, Mr Bernhard sei unser Butler und der endgültige Beweis dafür, dass wir beinahe so reich waren wie die Queen oder Madonna. Ich wusste nicht genau, wer oder was Mr Bernhard wirklich war. Für meine Mum war er »Großmutters Faktotum« und unsere Großmutter selber nannte ihn »einen alten Freund der Familie«. Für meine Geschwister und mich war er einfach »Lady Aristas unheimlicher Diener«.
Bei unserem Anblick zog er die Augenbrauen in die Höhe. »Hallo, Mr Bernhard«, sagte ich. »Scheußliches Wetter, nicht wahr?«
»Absolut scheußlich.« Mit seiner Hakennase und den braunen Augen hinter seiner runden goldfarbenen Brille erinnerte mich Mr Bernhard immer an eine Eule, genauer gesagt an einen Uhu. »Man sollte unbedingt einen Mantel anziehen, wenn man das Haus verlässt.«
»Ähm, ja, das sollte man wohl«, sagte ich.
»Wo ist Lady Arista?«, fragte Charlotte. Sie war nie besonders höflich zu Mr Bernhard. Vielleicht, weil sie im Gegensatz zu uns anderen schon als Kind keinen Respekt vor