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Tonfall.

      Unser Sozialkundelehrer hatte Julia auf dem Kieker, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte, und ließ keine Gelegenheit aus, um sie das spüren zu lassen.

      »Herr Schneider …«, begann Julia und setzte sich kerzengerade hin. OMG – was hatte sie denn jetzt vor?! »Sie unterrichten doch Sozialkunde, nicht wahr?« Der Lehrer nickte irritiert, alle Mitschüler hielten den Atem an. Es war so still im Klassenraum, dass man eine Fliege surren hörte. »Finden Sie es denn besonders sozial, wenn Sie mich hier auf eine so persönliche Weise vorführen?«

      Krabummm lag meine Federtasche auf dem Boden und ich wurde feuerrot. Auch Herr Schneider mutierte augenblicklich zum Feuerlöscher und ich sah seine Halsschlagader pochen. Die Sekunden, die nun folgten, erschienen mir wie Minuten – wenn nicht gar Stunden. Noch immer war es totenstill und ich wagte nicht, das Täschchen aufzuheben. In meiner Fantasie wurde Julia zum Direktor zitiert, flog von der Schule, bekam daraufhin keinen Ausbildungsplatz, demzufolge auch keinen Job und endete in kläglicher Armu. . . »Sehr gut gekontert, liebe Julia, Hut ab«, lachte da Herr Schneider plötzlich schallend los. Er kriegte sich gar nicht wieder ein, sodass wir alle mit einfielen. Alle, außer Julia, die jetzt guckte wie ein Auto. Nur wer sie so gut kannte wie ich, nahm den feinen Schweißfilm wahr, der sich auf ihrer Oberlippe gebildet hatte, ein untrügliches Zeichen für Angst.

      »Da hast du ja noch mal Glück gehabt«, wisperte ich, als die Stunde zu Ende war, und wir unsere Sachen packten, um zum Chemielabor zu gehen. »Das kannst du laut sagen«, japste Julia und folgte mir. »Einen kurzen Moment lang dachte ich, das war’s – jetzt gibt’s richtig Ärger. Aber andererseits fand ich, dass es an der Zeit war, dem Schneider mal zu zeigen, was Sache ist. Schließlich habe ich weder den Unterricht gestört noch sonst was Schlimmes gemacht. Das bisschen Quatschen kann er mir nun echt nicht vorwerfen! Und ich habe nicht vor, den Rest meiner Schulzeit dafür zu büßen, dass er irgendeinen Komplex gegenüber Leuten hat, die besser gestellt sind als er.«

      »Klingt gut!«, ertönte es auf einmal neben uns.

      »André, da bist du ja«, säuselte Julia und schenkte ihm ihr bezauberndstes Lächeln. Ich ging ein paar Schritte schneller, um die beiden alleine zu lassen. »Du musst nicht davonlaufen, Marie«, grinste André und sah dabei so umwerfend aus, dass ich Julia einen Moment lang verstehen konnte, auch wenn der Franzose an sich nicht mein Typ war. Er war mir eine Spur zu glatt, zu gut angezogen, zu sehr Pariser Charmeur, zu sehr Klischee. Ich mochte es lieber, wenn jemand durch und durch echt war, ein bisschen edgy. Lieber Ecken und Kanten als langweilige Perfektion.

      Ich war deshalb leider auch sehr wählerisch und überlegte es mir immer dreimal, ob ich mich in irgendetwas hineinstürzte oder nicht.

      »Halt, stopp, warte auf mich!«, rief Julia lautstark über den Gang, ihr Tête-à-tête war an unterschiedlichen Unterrichtsplänen gescheitert. André war zwei Jahrgänge über uns und ging demzufolge nicht in unsere Kurse.

      »Ich bin ja so was von aufgeregt«, zwitscherte Julia, offenbar war der Zwischenfall mit Schneider bereits Schnee von gestern.

      Im Augenblick gab es nichts Wichtigeres als das, was André gesagt, oder nicht gesagt hatte. Jede noch so kleine Silbe wurde gedreht, gewendet, aufwendig analysiert und kommentiert. Julias ganzes Glück hing von dem morgigen Date ab. Ich hoffte und betete, dass am Freitag auch wirklich alles glattging und ihre Wünsche sich erfüllten, denn so verknallt hatte ich sie noch nie erlebt.

      Ob ich mich wohl auch endlich mal verlieben würde?

      Oder gab es diesen einen, von dem ich manchmal heimlich träumte, am Ende gar nicht?

      7.

      Die Feenkönigin schüttelte ungläubig den Kopf, als Delba, eine der Holden, ihr zuflüsterte, Meteorologen hätten gerade den härtesten Winter seit über hundert Jahren prophezeit. »Ach was wissen die denn schon?«, rief sie aus und blickte über die schneebedeckten Bergkuppen, die unter ihrem Blick zu schmelzen begannen. Jetzt sah es so aus, als würden die Berge weinen. »Die Menschen und ihre statistischen Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Hat denn keiner von ihnen mehr ein Gespür für die Natur? Haben die denn alle verlernt, die Zeichen zu lesen, die ich ihnen schicke?«

      Müde sah sie den Zugvögeln hinterher, die ihre lange Reise in den Süden antraten. Sie lauschte dem Lied des Herbstwindes, der energisch an den Ästen der Bäume rüttelte und rot-goldenes Laub auf den Boden regnen ließ. Sie beobachtete Spinnen, die emsig ihre Netze woben, so zart und fein wie seidene Schleier. Schmetterlinge versuchten, sich vor den sinkenden Temperaturen ins Warme zu flüchten. Spät blühende Rosen reckten ihre Blütenköpfe nach den letzten Sonnenstrahlen, die der Herbst über das Land schickte.

      Delba beobachtete die Königin mit Sorge.

      Schon länger war ihr aufgefallen, dass sie mit ihren Aufgaben haderte und immer mehr zu Ungeduld neigte. Als hätte sie die Blicke der holden Priesterin auf sich gespürt, wandte sich die Feenkönigin zu ihr. »Es wird Zeit, dass die Menschen wieder lernen, demütig zu sein. Ihnen steht ein neues Zeitalter bevor, in dem sie die Chance haben, vieles von dem wiedergutzumachen, was sie der Erde und ihren Mitmenschen angetan haben. Doch sie müssen lernen, die Zeichen zu lesen, anders wird es nicht gehen …« Mit einem tiefen Seufzer wandte sie sich ab und besuchte in Gedanken das goldene Mädchen, das ihr so gut gefallen hatte.

      Und sie sah, wie sehr es sich nach Liebe und Geborgenheit sehnte …

      8. Marie Goldt

      (Freitag, 11. November 2011)

      Froh, endlich daheim zu sein, warf ich mich aufs Bett und starrte an die Zimmerdecke. Der gestrige Dienst in der Bäckerei war nervig gewesen und ich war nicht das erste Mal kurz davor, alles hinzuschmeißen. Auch die Schule war heute alles andere als ein Spaziergang. Gib der schlechten Laune keine Chance, sondern gönn dir lieber etwas Schönes, wisperte eine innere Stimme. Nimm ein Schaumbad und lass die Welt für einen Augenblick einfach Welt sein … Gedacht – getan! »Lykke ist es okay, wenn ich die nächste Stunde das Bad blockiere? Wenn du auf die Toilette musst, würde ich das an deiner Stelle jetzt tun«, rief ich vom Flur aus, erhielt jedoch keine Antwort. Wahrscheinlich war Lykke wieder abgestöpselt und hörte mich nicht. Also klopfte ich an der Tür, wartete einen Moment und betrat dann das Zimmer. Dort war weit und breit keine Spur meiner Stiefschwester, die freitags in der Regel früher nach Hause kam als ich. Sie hatte das Fenster offen gelassen und ich ging hin, um es zu schließen. Vor dem Schreibtisch blieb ich stehen. Auf der Tastatur des PCs lag ein wunderschön illustriertes Buch. Neugierig linste ich hinein:

      Wilhelm Busch (1832–1908)

      Herbst

      Der schöne Sommer ging von hinnen,

      Der Herbst, der reiche, zog ins Land.

      Nun weben all die guten Spinnen

      So manches feine Festgewand.

      Sie weben zu des Tages Feier

      Mit kunstgeübtem Hinterbein

      Ganz allerliebste Elfenschleier

      Als Schmuck für Wiese, Flur und Hain.

      Ja, tausend Silberfäden geben

      Dem Winde sie zum leichten Spiel,

      Sie ziehen sanft dahin und schweben

      Ans unbewusst bestimmte Ziel.

      Sie ziehen in das Wunderländchen,

      Wo Liebe scheu im Anbeginn,

      Und leis verknüpft ein zartes Bändchen

      Den Schäfer mit der Schäferin.

      Den letzten Absatz hatte Lykke mit einem gelben Leuchtstift markiert und ein Herzchen daneben gemalt. Gedankenverloren verriegelte ich das Fenster und ging kopfschüttelnd ins Bad. Wer hätte gedacht, dass meine Schwester Gedichte mochte? Eigentlich war nur ich diejenige, die gern mal eine Romantic-Comedy las, und musste mir dafür immer den Spott von Lykke anhören, die fast nur Thriller in ihrem Bücherregal stehen hatte. Bedeuteten die Herzchen etwa, dass sie gerade verliebt war?

      Während die wohlige Wärme und der beruhigende Duft des Schaumbads mich

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