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Ludmillas Bäckerei vorbei. »Hey, Marie, da bist du ja endlich«, rief jemand und ich drehte mich um.

      »Hallo Morten«, grüßte ich fröhlich. Ich mochte den Typen aus der Nachbarschaft, der irgendwas mit Web-Design zu tun hatte und in Hamburgs Kult-Kneipe, dem Lehmitz jobbte.

      »Wo warst du denn? Ich dachte, du arbeitest montags, mittwochs und samstags bei Ludmilla?!«

      »Nö, tu ich nicht. Mittwochs habe ich frei«, korrigierte ich ihn und schaute auf die Uhr. Gleich kam Kathrin nach Hause und ich musste noch einkaufen. »Entschuldige, ich muss los. Wir sehen uns dann morgen, oder?« Morten verzog die Mundwinkel. »Schade, dass du es immer so eilig hast. Man kann ja kaum mal in Ruhe zwei Worte mit dir wechseln.« Dann lächelte er. »Aber ich gebe nicht auf und werde wie immer mein nachmittägliches Stück Kuchen bei dir kaufen. Man sieht sich!« Und schwupps machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder zwischen den vielen Menschen, die um diese Uhrzeit den Kiez bevölkerten. Ich selbst ging in den Supermarkt und besorgte alles, was Kathrin mir heute Morgen auf die Einkaufsliste geschrieben hatte. Und das war diesmal eine Menge!

      »Bin wieder zu Hause, jemand da?«, rief ich kurze Zeit später durch den Flur, nachdem ich die schweren Tüten die Treppen hochgewuchtet und stöhnend auf dem gefliesten Boden abgestellt hatte. Zu blöd, dass wir kein Auto hatten, um mal einen richtigen Großeinkauf zu machen.

      Da niemand antwortete, öffnete ich die angelehnte Tür von Lykkes Zimmer. Ein Teil von mir glaubte immer noch daran, dass es irgendwann besser mit uns laufen würde, wenn ich nur weiterhin die Nerven behielt und nett zu ihr war.

      Der Anblick, der sich mir bot, war derselbe wie jedes Mal: Lykke saß mit dem Rücken zu Tür an ihrem Rechner, die Füße auf dem Schreibtisch und schaute irgendwelche Videos auf YouTube. Ich schüttelte den Kopf und dachte mal wieder, dass ich depressiv werden würde, wenn ich in diesem Zimmer wohnen müsste. Nach Lykkes Ansicht war der Style vermutlich gothic. Für mich aber war es nur die beste Möglichkeit, um richtig schlechte Laune zu bekommen. Die Wände waren dunkellila gestrichen, die Vorhänge aus schwarzem Samt. Das alles passte allerdings wunderbar zu ihrem eigenen Style mit den schwarz gefärbten Haaren, Smokey Eyes und dunkelgrün lackierten künstlichen Fingernägeln.

      Da sich in diesem Moment der Schlüssel im Schloss drehte, beschloss ich, besser schnell die Einkäufe in die Küche zu bringen, bevor Kathrin einen ihrer Anfälle bekam. Früher war meine Stiefmutter ganz okay gewesen, aber in den letzten Jahren war sie zu einem launischen Nervenbündel mutiert, was das Zusammenleben mit ihr nicht gerade leicht machte. Nachdem Papa gestorben war und sie nicht nur die Verantwortung für Lykke, sondern auch für mich übernehmen musste, hatte sie jetzt auch noch ihren festen Job als Musikpromoterin verloren. Das alles hatte ihr sichtlich zugesetzt. Aus der hübschen, lebenslustigen Person mit den kurzen dunklen Locken, blitzenden Augen und den vielen Sommersprossen war eine ziemlich verbitterte Frau geworden. Es gab Tage, an denen ich sie am liebsten erwürgt hätte, und Tage, an denen sie mir einfach nur leidtat.

      »Hallo Kathrin«, begrüßte ich sie und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Wie war dein Vorstellungsgespräch?«

      Ein Blick in die müden, trüben Augen genügte und ich kannte die Antwort.

      Also fragte ich, ohne weiter auf eine Antwort zu warten: »Möchtest du einen Tee?« Kathrin nickte, ließ sich wortlos auf einen Küchenstuhl fallen und ich stellte den Wasserkocher an. Während das Wasser heiß wurde, verstaute ich die Einkäufe und stellte dann alles für den griechischen Salat mit Knoblauch-Baguette bereit, den es heute zum Abendessen geben sollte.

      »Hattest du denn wenigstens einen schönen Tag?«, fragte Kathrin und brachte mich damit völlig aus dem Konzept. Es war lange her, dass sie sich mal nach meinem Befinden erkundigt hatte. Auch den Besuch bei Dr. Willibald Hahn schien sie vergessen zu haben. Oder sie versuchte, einfach nur die Tatsache zu ignorieren, dass ich die Hilfe eines Therapeuten benötigte.

      »Ich war mit Julia und Finchen bummeln und die beiden haben mir das da geschenkt«, erzählte ich und holte das Paket mit den Hüttenstiefeln aus der Tasche. »Die sind ja süß«, lobte Kathrin und streichelte verträumt den Kunstfellbesatz. »Die könnten mir auch gefallen. Jetzt, wo es bald wieder kälter wird und es in dieser Wohnung durch alle Ritzen zieht.«

      Einem Impuls folgend drückte ich ihr die Slipper in die Hand. Wir hatten beide dieselbe Schuhgröße.

      »Ach, spielt das Fräulein Schwester wieder mal Engel der Barmherzigkeit?«, kam es in diesem Moment spöttisch von der Tür – Auftritt Lykke. »Ich bin nur hier, um euch zu sagen, dass ich heute Abend in meinem Zimmer essen werde. Euer Familienidyll kotzt mich nämlich an.« Mit diesen Worten warf sie die Küchentür krachend ins Schloss. Kathrin gab mir die Stiefel zurück, sagte »Danke, aber das kann ich wirklich nicht annehmen« und ging Lykke hinterher.

      Seufzend goss ich den Hagebuttentee auf und begann dann, Tomaten, Gurken und den Eisbergsalat zu waschen.

      Das würde ja mal wieder ein toller Abend werden!

      6. Marie Goldt

      (Donnerstag, 10. November 2011)

      Der Himmel brannte.

      Müde rieb ich mir die Augen und schaute ein zweites Mal hin, weil ich es kaum glauben konnte. Noch nie hatte ich einen solchen Farbenteppich gesehen: Zartrosa, Pink, Flieder, Rubinrot, Orange – all diese Töne mischten sich zu einem flirrenden Lichterspiel. »Wenn Frau Holle Brot backt, flammt der Himmel rot«, sagte ein alter Mann mit Augenklappe, den ein strenger Geruch von Whiskey, Zigaretten und schmutziger Wäsche umwehte. Er stellte sich dicht neben mich, um das Schauspiel zu betrachten. Ich zuckte zusammen, denn der Alte sah etwas Furcht einflößend aus. Um diese Uhrzeit wankten zwar noch einige Nachtschwärmer über die Reeperbahn, aber insgesamt war es trotzdem ziemlich leer. Hilfe suchend schaute ich mich um. »Brauchst keine Angst vor mir zu haben, Mädchen«, lachte der Mann und rückte wieder von mir ab. »Ich gehe gerade mit Herrn Hund Gassi und hatte Lust, mich mal wieder mit einem jungen Menschen wie dir zu unterhalten. Du scheinst anders zu sein als die anderen, die gar nicht mitbekommen, wenn der Himmel ihnen ein so schönes Geschenk macht. Dazu sind sie viel zu sehr mit diesen Dingern im Ohr beschäftigt oder mit dem Kaffee, den sie mit sich herumschleppen. Oder sie tippen auf ihren Telefonen herum, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt. Also nichts für ungut, ich geh dann mal wieder.« Zusammen mit dem Schäferhund, dessen Schnauze bereits ergraut war, schlurfte er davon und war kurz darauf aus meinem Blickfeld verschwunden. Sofort überfiel mich ein schlechtes Gewissen. Hatte Papa nicht immer gesagt, dass ich mich nicht an Äußerlichkeiten orientieren und stattdessen den Menschen in die Augen – und damit in ihre Seelen – schauen sollte? Aber hatte er nicht ebenfalls betont, dass neben Vertrauen auch ein gesundes Misstrauen wichtig sei?!

      Gedankenverloren ging ich weiter und musste schließlich lachen: Herr Hund, was für ein großartiger Name für dieses wolfsähnliche Tier …

      In der Schule lief alles wie immer. Julia war aufgedreht und schaute andauernd in ihren Taschenspiegel. »Du siehst super aus, André wird deinen Look lieben«, versicherte ich ihr wie beinahe jeden Tag, seit André Derrain aus Paris aufgetaucht war, um der Reihe nach die Herzen aller Mädels unseres Gymnasiums in Flammen zu setzen. Bislang hatte noch keine das Vergnügen gehabt, mit dem französischen Neuzugang verabredet zu sein. Jede noch so smarte Flirtoffensive prallte an ihm ab. Nur Julia war im Besitz seiner Handynummer und hatte ein Date für Freitagabend. »Oder sehe ich doch zu kindlich aus?«, fragte sie jetzt und schaute verunsichert an ihren bestrumpften Beinen und dem ultrakurzen Schottenrock herunter. Obenrum trug sie eine weiße Bluse und eine knallrote Krawatte, an den Füßen College-Schuhe. Ein energisches »Guten Morgen!« aus Herrn Schneiders Mund beendete das Thema und ab da waren wir beide vollauf damit beschäftigt, uns auf Sozialkunde zu konzentrieren. Oder beziehungsweise ich war damit beschäftigt. Julia zubbelte so lange an ihrer schwarzen Wollstrumpfhose herum, bis sie eine Laufmasche hatte. »Na toll. Jetzt kann ich direkt heimgehen«, murmelte sie und ich grinste still in mich hinein. Jeder, der Julia kannte, wusste, dass sie nie das Haus verließ, ohne ein Paar Reservestrümpfe und andere Notfallutensilien dabeizuhaben. Weshalb ihre Taschen auch immer die Größe eines Kleiderschranks hatten.

      »Frau von Menkwitz,

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