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hörte sie aus dem Erdgeschoss tosenden Applaus. Im Fernsehen lief »Wetten, dass..?«, das sie auch gemeinsam hätten gucken können. Mama, Papa, sie und Lennart. Aber ihre Mutter hatte den Abend anders geplant, ohne die Kinder, allein mit ihrem Mann. Die Tür schloss sich, und Anna betrachtete erneut das Poster über ihrem Bett.

      Ein Mitschüler hatte ihr erzählt, Michael Jackson schlafe in einem Sauerstoffzelt, das sein Leben um hundert Jahre verlängerte. Sie fragte sich, ob in dem Zelt auch seine Freunde Platz fänden oder er darin mutterseelenallein lag, ob er die Einsamkeit mit dem Komponieren neuer Songs bekämpfte. Ein Zelt voller Sauerstoff, sinnierte sie. Wäre es nicht einfacher, im Wald unter einem grünen Baum zu schlafen? Sie seufzte, drehte sich auf die Seite und legte das Alf-Hörspiel »Reden ist Blech« ein, löschte dann das Licht und bettete ihren Kopf in den flauschigen Schoß des Teddys.

      Ein heftiges Rütteln riss Anna aus ihren Träumen, ein Arm schob sich unter ihre Kniekehlen, ein anderer unter ihren Rücken, dann hievte sie jemand vom Bett. Es war Lennart, ihr Bruder.

      »Halt dir den Pullover vor den Mund«, sagte er.

      In wilder Panik trat sie aus, und als sie ihn mit der Ferse am Kinn traf, ließ er sie zurück aufs Bett fallen. Sie wollte nach ihrer Mama rufen, brachte aber nur ein Röcheln, ein schmerzhaftes Husten zustande.

      »Bitte«, flehte er. »Nimm das verdammte Ding.«

      Sie versuchte zu schreien, bis er ihr den Pullover ins Gesicht presste. Seine Arme glitten zum zweiten Mal unter ihren Körper und stemmten sie hoch. An seine Schulter geschmiegt schwebte sie über die Türschwelle und die Treppe abwärts; alles war ringsum von Rauch verhüllt, jeder Atemzug drohte, ihr die Lunge zu zerfetzen.

      »Was hab ich getan?«

      Lennarts Stimme, kaum verständlich.

      »Was hab ich getan?«

      Er trug sie durchs Wohnzimmer, wo der Rauch dicht und blau und heiß war, dann in die Diele und zur Vordertür hinaus. Ihr Kopf rutschte von seiner Schulter in seine Armbeuge, und die Welt zeigte sich ihr verkehrt herum: Oben die graue Straße, unten der schwarze Nachthimmel und von irgendwoher ein rotes flackerndes Licht.

      »Was hab ich getan?«

      Seine Stimme nun kraftlos.

      »Was hab ich bloß getan?«

      Er wankte über das Feld und sank nach 100, vielleicht auch 200 Metern auf die Knie, legte Anna behutsam ab, schob den Pullover unter ihren Kopf, und während sie sich im Liegen erbrach, sah sie Lennart zurück zum Haus rennen. Er verschwand in Rauch und Feuer, für immer.

      DONNERSTAG

      Liebste Anna

      Ich bin ein ganz, ganz dummer Junge. Was ich getan habe, war nicht richtig. Im Rechnen hatte ich immer Einsen, trotzdem hab ich mich verzählt.

      1 Papa,

      1 Mama,

      1 Brüderchen.

      Das macht nach Adam Ries 3 feine Leichen. Dabei sollte das Sümmchen das Doppelte ergeben. Aber sei bitte nicht enttäuscht, ich werde die Rechnung korrigieren. Dein Onkel, deine Tante und der schöne David sind als Nächstes dran.

      Einen schönen Tag wünsche ich Dir,

      Küsschen.

      Drecksau

      »Meine Fresse«, sagte Willy Urban, während er auf dem Küchenstuhl stand und den Fliegenfänger musterte.

      Der Streifen war von oben bis unten mit Ungeziefer übersät; einige Kadaver sahen aus, als wären sie in Zuckerwatte getaucht worden. Das kam vom Fliegenschimmel, einem Pilz, der die Tiere bei lebendigem Leib zersetzte und deren Kadaver so anschwellen ließ, dass sie auf ihre Artgenossen äußerst betörend wirkten. Versuchten die gesunden Fliegen nun, den Kadaver zu begatten, infizierten sie sich ebenso. Verdammte Geilheit, dachte Willy und rupfte das Band von der Decke.

      Er durchquerte die Küche und gab sich alle Mühe, die klebrige Falle auf Abstand zu halten. Wenn er etwas mit seinen 69 Jahren hasste, dann war es Wäschewaschen; allein die Vorstellung, die Klamotten nach Hell und Dunkel zu sortieren, später auf die Leine zu hängen, zusammenzulegen oder gar bügeln zu müssen, bog ihm die Fußnägel zurück. Die Bundfaltenhose und das Karohemd hatte er heute frisch angezogen, aber seine Steppweste strotzte derart vor Dreck, dass kein Fliegenschiss sie hätte besudeln können.

      Er zerrte den Mülleimer aus dem Spülschrank, warf den Streifen hinein und machte sich gedanklich die Notiz, eine Packung »Fliegentod« zu kaufen. Im Sommer wimmelte es hier vor Ungeziefer, sodass die Fliegenklatsche sein treuester Begleiter war; jetzt ruhte das Viehzeug allerdings in Winterstarre.

      Er hob eine offene Flasche Bier vom Tisch, trank einen Schluck und schlurfte zum Backofen. Nach dem Aufwachen heute Morgen hatte er in der klammen Kälte seines Hauses beschlossen, die Gefriertruhe abzustellen. Seit Tagen hielten sich die Temperaturen unter null. Der Kasten fraß unnötig Strom, und ihm fiel kein plausibler Grund ein, weshalb er die wenigen Lebensmittel nicht im Schuppen oder auf dem Fenstersims lagern sollte; die Kälte gab es immerhin frei Haus. Neben Fischstäbchen und Preiselbeeren hatte er in der Truhe einen Beutel Pflaumen entdeckt, die er im letzten Herbst eigenhändig gepflückt, entkernt und eingefroren hatte. Als Willy den Backofen nun öffnete, strömte ihm der Duft eines hausgemachten Pflaumenkuchens entgegen.

      Der Teig wölbte sich über das Blech, an den Rändern leicht gebräunt, in der Mitte zartgelb, und der Fruchtsaft warf auf den Pflaumen winzige Bläschen. Er pikste mit dem Messer hinein und musterte anschließend die Klinge. Fast fertig, dachte Willy und verdrehte in heller Vorfreude die Augen.

      Er nahm eine Kuchengabel und einen Teller von Evas Lieblingsgeschirr aus dem Schrank. Handgemaltes Rosenmotiv auf weißem Porzellan. Dann latschte er, den Backgeruch in der Nase, den Speichel im Mundwinkel, zur Anrichte und griff nach dem Zuckertopf. Ein Stück Pflaumenkuchen ohne Zucker war wie eine Suppe ohne Fettaugen oder Kaffee ohne Sahne.

      »Verdammt«, fluchte er. »Alle.«

      Er hatte den letzten Zucker für den Hefeteig verwendet, eine Erkenntnis, so giftig und bitter, dass er das Bier in einem Zug leerte. Die Küchenuhr zeigte halb sechs. Seine Abendplanung sah keine Fahrt zum Netto vor; er wollte die Beine ausstrecken, den Kuchen verputzen, zwei oder drei Schnäpse kippen und sich einen Dokumarathon auf »National Geographic« geben. Außerdem hatte er im Laufe des Nachtmittags drei Bier getrunken, was eine Autofahrt de facto ausschloss. Als ehemaliger Polizist klebte ihm die Vorbildfunktion an den Fersen wie Hühnerkacke. Er strich sich das Haar zurück, öffnete ein neues Bier und latschte in die Wohnstube. Die Freude auf den Kuchen war dahin.

      Der Abend schwärzte die Fenster, und das Licht der Stehlampe leckte über die Scheiben und Ofenkacheln. Willy hakte die Daumen in die Westentaschen und beäugte sein Spiegelbild im Fenster. Früher hatte Evas Putzfimmel dafür gesorgt, dass er sich mit scharfen Konturen und feinen Details auf dem Glas wiedererkannte; jetzt war seine Gestalt unscharf, schwammig und seines Erachtens viel zu fett. Eva hätte ihn beim Anblick der Wohnstube garantiert eine Drecksau geschimpft. Dabei saugte er regelmäßig Staub, schrubbte das Klo einmal im Monat und ließ den Abwasch höchstens eine Woche stehen. Andere Dinge vernachlässigte er, insbesondere solche Dinge, die Eva erledigt hatte: Fenster putzen, Vorräte auffüllen, Staub wischen oder eben die Wäsche waschen.

      In einem Anflug von schlechtem Gewissen schnappte er sich das Kissen vom Ofenhocker und rieb es über die Kacheln, dann trottete er zu dem Küchenbüfett an der hinteren Wand. Das Möbelstück passte nicht in die Wohnstube, wirkte hier deplatziert, als stünde es für den Sperrmüll bereit. Willy fand es praktisch, erstens hatte auf der Arbeitsfläche sein Plattenspieler Platz und zweitens konnte er den unteren Teil mit allerlei Krimskrams zumüllen. Halbherzig strich er das Sitzkissen über das Holz und die Glastüren. Wäre ihre Ehe nicht kinderlos geblieben, hätte Willy sich wohl zum Besseren entwickelt; wahrscheinlich wäre er heute einer dieser perfekten Witwer, deren Verlust ungeahnte Kräfte in ihnen mobilisierte. Diese Super-Witwer, die im Kirchenchor singen oder Hunde

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