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Mit wenigen Schritten war Julius am Kamin. »Der Engel, den ich Erika vor Jahren zum Geburtstag geschenkt habe. Vielleicht hat sie ihn aus Versehen zerbrochen.«

      »Das glaube ich nicht.« Während ihr Papsi die Augen noch vor der offensichtlichen Tatsache verschloß, hatte sich Romy bereits mit detektivischem Gespür auf die Suche gemacht. »Und da fehlt ein Bild. Man sieht deutlich den dunklen Rand um den hellen Fleck.«

      »Macke, dort hing ein echter Macke, ein Erbstück meines Großvaters.« Julius schnappte nach Luft. »Ist er schon länger weg?«

      »Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung«, gestand Romina kleinlaut. Mit einem Mal drückte das schlechte Gewissen auf ihre Seele. Was wußte sie überhaupt von diesem Haus, von den Personen, die darin lebten? Was für ein Mensch war ihre Adoptivmutter? Hatte sie sich je die Mühe gemacht, die Frau wirklich kennenzulernen, die seit achtzehn Jahren für sie sorgte? Unwillkürlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Aber was noch viel schlimmer ist, ich glaube, Erika ist wirklich weg«, meinte sie auf einmal, während sie den Blick nicht von dem erschreckenden Fleck an der Wand wenden konnte.

      »Wie meinst du das?«

      »So, wie ich es sage«, schluchzte Romy ungehalten. »Wir haben sie vertrieben mit unserer Ignoranz. Schließlich hat sich keiner wirklich um sie gekümmert. Immerzu gestritten habe ich mit ihr und ihr vorgeworfen, wie furchtbar langweilig sie ist.«

      »Komm her, Kleines. Du darfst dir keine Vorwürfe machen.« Voller Sorge nahm Julius seine Romina in den Arm und wiegte sie sanft. Unwillkürlich erinnerte er sich an die Zeit, als sie noch ein Baby gewesen war. Aus Furcht vor einer Schwangerschaft hatte Erika ihm den Wunsch nach einem eigenen Kind verwehrt und endlich in eine Adoption eingewilligt. Vom ersten Tag an hatte er seine Kleine wie sein eigen Fleisch und Blut geliebt, doch Erika konnte sich nie wirklich mit dem kleinen Eindringling anfreunden. »Es ist nicht deine Schuld. Erika hat einen Schutzwall um sich herum aufgebaut.«

      »Aber warum denn nur?« Inzwischen schluchzte Romy wie ein kleines Kind in den Armen ihres Papsis. »Welchen Grund hatte sie dafür?«

      »Sie war schon immer ein sehr verschlossener Mensch«, erklärte Julius nachdenklich. »In der ersten Verliebtheit übersieht man solche Eigenheiten leicht. Und später war keine Zeit mehr, über solche Dinge nachzudenken. Anfangs habe ich ja versucht, Erika aus ihrem Schneckenhaus herauszulocken. Immer ohne Erfolg.« Er seufzte. »Wir haben wohl alle Fehler gemacht. Das Wichtigste ist aber jetzt, daß wir sie finden, um zu retten, was zu retten ist.« Sein Körper straffte sich während dieser Entscheidung.

      »Glaubst du, sie ist fortgegangen?«

      »Es sieht ganz danach aus. Offenbar hat sie alles ganz genau geplant. Sonst hätte sie nicht ausgerechnet die wertvollsten Kunstschätze mitgenommen.« Forschend sah sich Julius um und machte sich dann gemeinsam mit Romina auf die Suche nach weiteren Zeichen. Tatsächlich fanden sie die Befürchtung des Anwalts bestätigt. Erika hatte sich offenbar nicht davor gescheut, die kostbarsten Gegenstände aus den Zimmern zu entfernen. Wann genau das geschehen war, vermochten weder Julius noch Romy zu sagen. Zu sehr waren sie mit sich und ihren Problemen und Sorgen beschäftigt gewesen.

      Lange suchten sie nach einem Hinweis darauf, wo Erika stecken mochte, als Romina endlich fündig wurde. Im Schlafzimmer von Erika fand sich mitten auf dem gewaltigen Messingbett ein einfacher Briefumschlag, versehen mit dem Namen von Tochter und Mann.

      Romy stieß einen entsetzten Schrei aus.

      »Um Himmels willen, was ist denn passiert?« Alarmiert stürmte Julius in das Zimmer in der Erwartung, etwas Schreckliches vorzufinden. Doch da stand nur seine Tochter, zitternd am ganzen Leib und deutete auf den Umschlag.

      »Da sieh nur. Ein Brief.«

      »Und deswegen schreist du so?« Julius atmete tief durch. Die ganze Sache zerrte an seinen Nerven. »Laß mal sehen.« Vorsichtig griff er nach dem Umschlag. Er war zugeklebt, deshalb riß er ihn an der Seite auf und überflog die wenigen Zeilen, geschrieben in ungelenker, beinahe kindlicher Handschrift.

      »Das darf doch nicht wahr sein!« stöhnte er dann auf.

      »Was ist denn? Nun sag doch schon, Papsi!« Aufgeregt zerrte Romy an Julius’ Hand.

      »Sie ist fortgegangen und hat mitgenommen, was ihr ihrer Ansicht nach zusteht. Dazu gehören neben all den Kunstschätzen auch ein Gutteil unserer Bankkonten.«

      »Sie hatte eine Vollmacht?«

      »Natürlich, das ist doch selbstverständlich unter Eheleuten.«

      »Na ja, ihr beide wart ja wohl eher eine Zweckgemeinschaft«, erklärte Romy etwas gallig und handelte sich dafür einen Stüber ihres Adoptivvaters ein.

      »Sprich nicht so respektlos von uns«, wehrte er sich schwach. Der Schock über die unerwartete Flucht seiner Frau saß zu tief. »Ich fasse das alles gar nicht.«

      »Glaubst du, sie hat einen anderen?«

      »Wenn du mich das heute morgen gefragt hättest, hätte ich dich ausgelacht. Inzwischen schließe ich nichts mehr aus.«

      »Schreibt sie, was sie vorhat?« forschte Romina weiter, die sich nicht an die Zeilen heranwagte. Noch nicht.

      »Nein, kein Wort.«

      »Willst du die Polizei rufen?«

      »Wozu? Erika ist aus freien Stücken gegangen. Warum sollte ich versuchen, sie zurückzuholen? Schließlich ist sie eine selbständige Frau. Viel eigenständiger, als ich bisher angenommen habe.«

      »Wer weiß, was sie damit angefangen hat. Wahrscheinlich sind sie längst verkauft, zu Bargeld gemacht. Ich wüßte noch nicht mal, wo ich zu suchen anfangen sollte.«

      »Aber was sollen wir denn jetzt tun?« Wieder stiegen die Tränen in Romys Augen.

      »Ich weiß es noch nicht«, entgegnete Julius schulterzuckend. Seine leichenblasse Miene verriet, wie sehr ihn diese Neuigkeit mitnahm. Kraftlos ließ er sich in seinen Sessel fallen, der vor dem offenen Kamin stand. Romina kam zu ihm und kuschelte sich auf seinen Schoß wie ein kleines Mädchen, starrte in die schwarzen Reste des Feuers vom Vortag. Diesmal hatte Erika den Kamin nicht ausgeräumt. Sie würde es nie mehr tun.

      *

      Ohne sie wirklich anzusehen, ließ die Fotografin Franziska Engel den Blick über den Tisch gleiten, auf dem sie ihre neuesten Fotografien ausgebreitet hatte. Hübsche Mädchen waren darauf in allen möglichen Posen abgebildet. Da die Bilder auf Mallorca entstanden waren, waren im Hintergrund traumhafte Buchten, blauschillerndes Meer und feiner Sandstrand zu sehen. Doch Zissa hatte dafür keinen Blick. Immer wieder forschte sie in den Gesichtern der Mädchen nach bekannten Zügen, suchte die Ähnlichkeit, obschon sie wußte, wie absurd diese fixe Idee war. Jedes Mädchen, das ihr auf der Straße begegnete und auch jedes Model konnte schließlich ihre leibliche Tochter sein, die sie vor achtzehn Jahren, beinahe selbst noch ein Kind, zur Adoption freigegeben hatte.

      »Woran denkst du denn schon wieder?« Eine braungebrannte Männerhand legte sich sanft auf Zissas Schulter, die unter dieser unerwarteten Berührung zusammenzuckte.

      »Ach, du bist es, Carlos«, erwiderte sie unwillig und nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. »Igitt, schon wieder kalt.«

      »Du sitzt ja auch inzwischen eine halbe Stunde hier und grübelst. Ich habe dich durch die Glastür beobachtet.« In Carlos’ Stimme schwang leiser Unwillen, den Franziska geflissentlich überging.

      »Meine Tochter geht mir nicht aus dem Sinn«, seufzte sie statt dessen und starrte aus dem Fenster in den dichten Frankfurter Nebel. »Wenn ich nur wüßte, wo sie steckt und was sie tut.«

      »Das wirst du nie erfahren«, tat Carlos ihre Gedanken mit einer Handbewegung ab. »Schließlich war sie erst ein paar Tage alt, als du sie ohne Angaben weggegeben hast. Wie willst du sie also finden?«

      »Ich glaube eben noch an die Stimme des Blutes«, ließ sich Zissa nicht beirren. »Irgendwann sehe ich eine junge Frau und werde wissen, daß sie das ist, meine

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