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      Thiersch knapp vor, dann reichte er dem jungen Arzt die Krankenakte. »Das ist Ihre neue Patientin.« Er dämpfte die Stimme und gebrauchte etliche lateinische Wörter, bevor er Dr. Scheibler mit einer flüchtigen Handbewegung entließ.

      Der junge Arzt wandte sich Cornelia zu. »Kommen Sie bitte mit mir nach oben? Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.«

      Cornelia und Günter verabschiedeten sich von Professor Thiersch und verließen dann aufatmend das Zimmer. Dr. Scheibler bemerkte

      es.

      »Der Professor tut nur so ruppig«, erklärte er lächelnd. »In Wirklichkeit liegt ihm das Schicksal seiner Patienten sehr am Herzen.«

      »Das hat mir Dr. Daniel auch gesagt«, meinte Cornelia. »Trotzdem hat er mir Angst eingejagt.«

      Dr. Scheiblers Lächeln vertiefte sich. »Das glaube ich gern, Frau Schalk. Professor Thierschs Art ist äußerst gewöhnungsbedürftig.« Er schwieg kurz. »Sie kommen also von Dr. Daniel.«

      »Das klingt, als würden Sie ihn kennen«, stellte Günter fest.

      »Nur flüchtig«, erklärte Dr. Scheibler. »Ich hatte mal mit seinem Sohn zu tun – allerdings mehr auf privater Ebene. Und Dr. Daniel kommt gelegentlich hierher in die Klinik. Im Gegensatz zu vielen anderen Ärzten kümmert er sich um seine Patientinnen auch, wenn sie im Krankenhaus sind.«

      Inzwischen hatten sie das erste Stockwerk erreicht, und Dr. Scheibler öffnete eine Tür auf der rechten Seite.

      »So, Frau Schalk, hier ist für die nächsten Tage Ihr Reich«, meinte der junge Arzt. »Sie haben jetzt noch ein bißchen Zeit, um sich häuslich einzurichten. Um zwölf Uhr bekommen Sie Ihr Mittagessen, und anschließend werden wir mit den ersten Untersuchungen beginnen.«

      »Werden… Sie diese Untersuchungen durchführen?« erkundigte sich Cornelia zögernd.

      Dr. Scheibler wußte genau, weshalb sie diese Frage stellte: Sie hatte Angst vor einer weiteren Begegnung mit Professor Thiersch.

      »Ich kann Sie beruhigen, Frau Schalk«, erklärte er. »Sämtliche Untersuchungen werden von mir oder unserem Oberarzt, Herrn Dr. Heller, durchgeführt.«

      Cornelia atmete auf, doch sie hatte noch etwas auf dem Herzen. »Wird es… sehr weh tun?«

      Dr. Scheibler warf einen Blick in die Krankenakte, in der Professor Thiersch alle durchzuführenden Untersuchungen notiert hatte.

      »Es sind ein paar unangenehme Dinge dabei«, gestand er dann ehrlich, »aber wirklich schmerzhaft wird keine der Untersuchungen sein.« Er nickte Cornelia und Günter verabschiedend zu. »Ich komme am frühen Nachmittag wieder zu Ihnen.«

      »Ein sympathischer Arzt«, urteilte Günter, nachdem Dr. Scheibler das Zimmer verlassen hatte. »Ich glaube, du bist hier wirklich in guten Händen, Conny, auch wenn der Professor ein bißchen ungehobelt ist.«

      »Ungehobelt«, wiederholte Cornelia leise. »Ich finde, er ist richtig furchteinflößend. Und ich hoffe nur, daß ich ihn so schnell nicht wieder zu Gesicht bekomme.«

      *

      Mit sehr gemischten Gefühlen sah Michaela Kraus ihrem nächsten Termin bei Dr. Daniel entgegen. Sicher, sie hatte großes Vertrauen zu dem Arzt, andererseits war ihr immer wieder eingeschärft worden, daß man »über diese Dinge« nicht sprach.

      Langsam ging Michaela die steile Auffahrt hinauf, die zu Dr. Daniels Villa führte. Trotz der schattenspendenden Bäume kam die junge Frau ins Schwitzen, und so war sie froh, als sie das verhältnismäßig kühle Vorzimmer betreten konnte, in dem die Empfangsdame Gabi Meindl saß.

      »Meine Güte, ist das eine Hitze«, stöhnte Michaela.

      Gabi nickte bekräftigend. »Das kann man wohl sagen. Und es ist noch kein Ende in Sicht.« Dann lächelte sie. »Nehmen Sie bitte noch einen Augenblick im Wartezimmer Platz, Frau Kraus. Der Herr Doktor hat gleich Zeit für Sie.«

      Es dauerte auch wirklich nur wenige Minuten, bis Michaela ins Sprechzimmer gerufen wurde. Ein wenig befangen nahm sie in einem der beiden Sessel Platz, die dem Schreibtisch des Arztes gegenüberstanden.

      »Ich glaube, es ist für uns beide eine etwas ungewöhnliche Situation«, meinte Dr. Daniel mit einem freundlichen Lächeln. »Sie sollen mit mir über Dinge sprechen, die Ihnen peinlich sind, und ich habe auf dem Gebiet der Psychiatrie keine Erfahrung.«

      »Psychiatrie«, wiederholte Michaela nahezu ängstlich. »Sie denken also doch, daß ich verrückt bin.«

      »Nein, Frau Kraus, das denke ich keineswegs«, entgegenete Dr. Daniel mit Nachdruck. »Aber ich bin nach wie vor der Ansicht, daß es für Sie weit besser wäre, sich einem Arzt anzuvertrauen, der über die Psyche des Menschen genauer Bescheid weiß als ich.«

      Michaela schüttelte den Kopf. »Wenn überhaupt, dann kann ich nur mit jemanden sprechen, zu dem ich Vertrauen habe. Und einem

      Psychiater gegenüber wäre ich voreingenommen.« Sie schwieg kurz. »Ich glaube, es hilft mir schon, nur einmal darüber zu sprechen… die Ansichten eines anderen Menschen zu hören.«

      Dr. Daniel lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Wenn das so ist, dann sprechen Sie sich alles von der Seele, Frau Kraus.«

      Michaela atmete tief durch. »Ich weiß gar nicht so recht, wo ich beginnen sollte. Mein ganzes Leben war so anders als das meiner Freundinnen… das heißt, richtige Freundinnen hatte ich gar nicht. Wie denn auch? Alles, was die anderen gern taten, durfte ich nicht. Wenn die Mädchen aus meiner Klasse am frühen Samstagabend ins Kino gingen, mußte ich in die Abendmesse gehen. Und einen Fernseher gab es bei uns auch nicht. Abends saßen wir alle zusammen, und mein Vater hat aus der Bibel vorgelesen. Auf diese Weise konnte ich natürlich nirgends mitreden.« Sie zuckte ein wenig hilflos die Schultern. »Die anderen fanden mich langweilig.«

      Mitleid stieg in Dr. Daniel auf. Das arme Mädchen hatte mit Sicherheit keine schöne Kindheit gehabt. Es war von Anfang an dazu verurteilt gewesen, in einer Außenseiterposition zu leben, und das schien sich bis heute gehalten zu haben.

      »Wie haben Sie Ihren Mann kennengelernt, wenn ich fragen darf?« erkundigte sich Dr. Daniel.

      »Natürlich dürfen Sie, Herr Doktor«, erklärte Michaela, dann glitt ein glückliches Strahlen über ihr Gesicht. »Rudi und ich haben uns bei der Arbeit kennengelernt. Er ist Chemiker und arbeitete in derselben Firma, in der ich als Sekretärin angestellt war. Ich habe ihn einige Male gesehen und fand ihn auf Anhieb sehr sympathisch, aber ich durfte ja nicht mit ihm zu sprechen beginnen. So etwas schickt sich für ein Mädchen nicht.«

      Dr. Daniel hatte Mühe, einen Seufzer zu unterdrücken. Michaela Kraus war nur ein paar Jahre älter als seine eigene Tochter, und ihm wäre es nie im Traum eingefallen, Karina derart altmodisch zu erziehen. Was Michaela eingetrichtert worden war, waren Ansichten, wie sie vor vielen Jahren gegolten hatten.

      »Bei einem Betriebsausflug machte Rudi dann den Anfang«, fuhr Michaela fort und riß Dr. Daniel aus seinen Gedanken. »Wir unternahmen zusammen mit einer kleinen Gruppe eine Wanderung, und da begann er plötzlich, sich mit mir zu unterhalten. Anfangs war ich noch schrecklich gehemmt und verlegen, aber Rudi hatte eine so herzliche Art, daß es mir bald leicht fiel, mit ihm zu sprechen.« Sie senkte den Kopf.

      »Meine Eltern waren entsetzt, als ich ihnen erzählte, daß ich einen jungen Mann kennengelernt hätte. Doch als sie merkten, wie ernst es Rudi und mir war, hatten sie keine Einwände mehr. Allerdings rangen sie mir das Versprechen ab, vor der Ehe ja nichts mit ihm anzufangen.«

      Da Michaela nun schwieg, ahnte Dr. Daniel, daß sie ihr Versprechen gebrochen hatte.

      »Ich nehme an, es kam trotzdem zu einem intimen Zusammensein zwischen Ihnen und Ihrem späteren Mann«, erklärte er behutsam.

      Michaela nickte zögernd. »Rudi… er… er war so aufgeschlossen. Er fand nichts dabei, sich zu küssen und… mehr. Er sagte, daß alles gehöre zu einer normalen Beziehung dazu. Und ich wollte unter allen Umständen normal

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