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neben diesen breiten Straßen laufen ungezählte schmale Pfade, und auf ihnen ziehen in unlösbarem Gewirre die »numeri« des Horaz, die namenlosen Leute, die nicht so gewichtig sind, daß sie die breiten Straßen mitzubahnen vermöchten, und sich deshalb auf schmalen Pfaden vorwärts schieben müssen, so gut es geht, einfache Leute, Bauern und Bürger, Edle und Unedle, Böse und Gute, Freie und Unfreie, unsere Voreltern, wir, unsere Verwandten, unsere Freunde, unsere Feinde, alles bunt durcheinander, lauter Menschen, von denen nichts in den dicken Weltgeschichten steht noch stehen wird.

      Manchmal freilich will es uns dünken, wenn wir so zurücksehen, als ob fort und fort Wechsel wäre zwischen den kleinen Wegen und den großen Straßen, als ob da droben das eine oder das andere hohe Geschlecht seine Krone verlöre, sein Schwert sinken ließe und sich seitab verirrte; eine Zeit lang sehen wir vielleicht seine Gestalten noch ragen, dann aber verschwinden sie im namenlosen, unendlichen Haufen. Und zuweilen sehen wir auch wieder das eine oder das andere von den schmalen Weglein auf eine stolze Straße münden, neue Geschlechter treten unter die Reihen der Großen, heben gefallene Schwerter auf, lassen sie blitzen und sind weithin zu sehen, bis auch ihre Pfade wieder im Gewirre der drängenden, hastenden, schiebenden Haufen verschwinden.

      Wo läuft nun die »Geschichte«? Auf den großen Straßen? Auf dem Wirrsal von kleinen Wegen? Auf beiden! Auf den großen Königsstraßen nicht mehr wie auf den kleinen Pfaden, auf denen die Masse der Geschlechter kämpft und leidet, lacht und weint, lebt und stirbt, ihren Zweck zu erfüllen. Und auf beiden ist sie gleich groß, gleich wunderbar zu schauen; denn die Sonne blitzt nicht nur schön auf dem blanken Helm und auf der goldenen Krone, sondern auch im kleinen Tautropfen am schwankenden Blatte, der Wind bläst nicht nur in die rauschenden Heerfahnen, er streicht auch über das grüne Gras am Wege, und der zornige Blitz fällt nicht nur die Eiche – er zerstört auch das stille Nest des Vogels, der sich in ihren Ästen geborgen hatte.

       * * *

      Lange war mein Vater den Wegen seines verjagten Geschlechtes nachgegangen, auf und ab, ab und auf hatten sie ihn geführt und lagen endlich ziemlich klar vor ihm bis zurück auf den Anfang des sechzehnten Jahrhunderts. Von da ab verloren sie sich ganz im Dunkel. Martha hatte ja damals das Feuer gut geschürt, und die Flammen hatten alles verzehrt, was uns weitere Kunde hätte geben können über unsere Vorzeit!

      Aber wo war doch die alte Urkunde mit den drei Siegeln geblieben, die man damals nicht in den Kamin geworfen hatte? Mein Vater fragte nach ihr bei den nächsten Verwandten – jeder hatte von ihr erzählen hören, doch keiner hatte sie jemals gesehen.

      Da machte er sich im nächsten Herbste auf, diese geheimnisvolle Urkunde bei den Vettern im Walde und bei dem Zweig im Norden zu suchen und so auch einmal diese fremden Verwandten kennen zu lernen, zu hören, was sie noch von der Vergangenheit wußten, und die alten Stätten zu sehen, an denen das Geschlecht vordem gewohnt hatte. Mich aber nahm er mit auf die Fahrt.

      Die Moosburg.

       Inhaltsverzeichnis

      Da standen wir neben dem Bahngeleise, brennend fielen die Sonnenstrahlen auf uns herab, klingend und polternd und pustend enteilte der Zug auf den funkelnden Schienen, die Scheibe am letzten Wagen wurde immer kleiner und kleiner, dann verschwand alles im Walde.

      Der Mann mit der roten Mütze ging schläfrig neben meinem Vater in das Gebäude, sein großer, schwarzer Hund streckte sich unter der Glocke in den Schatten und fing Fliegen, und auf der Holzbank neben ihm saß ein alter Jude in schmierigem Gewande und schlief. Ich aber nahm unser Täschchen auf den Rücken, schritt quer durch die staubige Straße draußen, warf einen Blick auf das gelbe Postvehikel, vor dem zwei betrübte Klepper die Ohren hängen ließen, schritt durch Gebüsch den schmalen Fußsteig hinab und stand auf der breiten Holzbrücke, die über den trägen Fluß führt. Dort wartete ich.

      Eine weite Fernsicht that sich auf, viele Stunden thalabwärts lag das Land im heißen Sonnenglanz und schien mit offenen Augen zu schlafen, und auch die hohen Erlen am linken Ufer schliefen und rührten leise, wie im Traum erzitternd, ihre Blätter; unter den grauen Pfeilern der Brücke aber zog ruhig das klare, braune Wasser, nur dann und wann schnellte der silberne Leib eines Fisches blitzend aus den kühlen Wellen empor und fiel wieder in sein Bett zurück.

      Ich lehnte am Geländer und schaute hinunter in das fließende Wasser. Es zieht mich immer mächtig zu sich hin, wo ich's sehe, dieses feindliche, freundliche, schmeichelnde, schreckliche, so unendlich heimliche und doch so fremde, entgegengesetzte Element – mag es nun in schäumendem Sturze von moosgrünen, tannengekrönten Felsen herabdonnern und in Milliarden von Tropfen zerstäuben, oder süß glucksend am Meeresstrande mit schmeichelnden Zungen den weißen Sand belecken und mir Seetang und Muscheln vor die Füße tragen; und ich liebe es nicht minder, wenn es im tiefen Strombett dahingleitet, eine gezähmte Schlange, der man Lasten auf die glitzernden Schuppen gelegt hat, oder wenn es im Dorfbach geschwätzig an mir vorübereilt und den Buben ihre Rindenschifflein entführt. Am schönsten aber ist's, auf einer Brücke zu stehen und hinunter ins fließende Wasser zu schauen, wenn die glänzende, warme Sonne auf den Wellen liegt, nur immer zu schauen, bis zuletzt auch die Brücke und das Land mitzufließen scheint, gar nichts zu denken und nur noch zu träumen.

      So träumte auch ich, und ich weiß nicht, wie lange ich noch weiter geträumt hätte. Da kam mein Vater.

      Noch einige hundert Schritte, und wir traten in den schattigen Kranz von Obstbäumen, der das Dorf umgab. Alles war ruhig, und auch die Hunde schienen zu schlafen.

      Wir gingen in den nächsten Hof und in das strohgedeckte Haus. Eine angenehme Kühle umfing uns, wir trockneten die heißen Stirnen, und dann klopften wir an der ersten Thüre.

      Eine Frauenstimme rief »herein«, und wir hatten uns beide tief zu bücken, damit wir die Köpfe nicht an dem niedrigen Thürbalken anstießen.

      Da drinnen in der Stube war's Sonntag, wie es drüben im Stationsgebäude Sonntag war, wie es in der gelben Postkutsche auf der heißen Straße Sonntag war und wie es draußen Sonntag war auf der Brücke unter den Erlen. Sonntagsluft ging durch das Land, und es lag allenthalben ein stiller Sonntagsglanz.

      Den Fußboden des Zimmers bedeckte weißer, feiner Sand und kleingehacktes, grünes Tannengezweige, durch die schwankenden Reben und die blitzhellen Fenster schossen die Sonnenstrahlen herein, zeigten, wie blank der Ahorntisch in der Ecke gescheuert war, und spielten in dem weißen Haar eines Mannes, der den Kopf in die Hände gestützt hatte und in einem Buche las. Hinten am kalten Kachelofen aber saßen Zwei, denen es wohl auch recht wie Sonntagsluft und Sonntagsglanz ums Herz sein mochte. Sie hatte ein schwarzes Kleid an, das in vielen Falten herabhing, hatte ein schönes, blaues Mieder an, das mit silbernen Spangen geschlossen war, und um ihren runden Kopf, aus dem zwei lustige Augen in die Welt guckten, war in dicken Flechten flachsblondes Haar geschlungen. Er hatte ein gutmütiges, junges Gesicht und ein schwarzes Schnurrbärtchen; er stak in grünen Reiterhosen, hatte lange Stiefel mit glänzenden Sporen an, und auf dem Kopfe trug er die kecke, grüne Mütze mit dem roten Ausputz. Sein Waffenrock aber hing hinter ihm an der Thüre.

      Alles war sonntagsruhig in dieser Stube, selbst die graue Katze, die sich zu Füßen des Alten putzte, war sonntäglich anzusehen, und die summenden Fliegen an der Decke hatten auch stille Zeit.

      Die drei Menschen schauten uns an, als wir in die Stube traten. Der Alte nahm seine große Hornbrille von den Augen und stand langsam auf; die Zwei auf der Ofenbank blieben ruhig sitzen, aber das Dirnlein war auf einmal ganz rot geworden und steckte ihren Zeigefinger in den Mund.

      »Grüß Gott«, sagte mein Vater. »Wo geht man denn zur Moosburg, Bauer?«

      »Die Moosburg wollen die Herren sehen? Ja, da schauen's aber nit viel dran.«

      »Macht nichts, Bauer. Wir schauen's uns auch an, wenn wenig zu sehen ist. Stehen die Mauern noch?«

      »Nein, Herr, kein einziger Stein. Wirklich, wenn mir's mein Großvater seliger nit gesagt hätt', er hätt' selber als kleiner

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