Скачать книгу

die gute, fromme Tante. Ihr feines Antlitz war bleich, sie kam ja so selten aus dem Zimmer, weil sie krank war seit vielen Jahren. Ich sah sie nur gerne an, diese edle Frau; sie hatte viele Mühsale durchzumachen gehabt, hatte aber auch viele Freude in ihrem Hause, an den Ihrigen erlebt, und ich kannte sie nie anders, als gleichmäßig freundlich und heiter. Frühjahr und Sommer, Herbst und Winter zogen draußen vorüber, die Welt ging ihren Gang, nur ganz von ferne schlugen die lärmenden Wellen an ihr Ohr – aber im Hause war sie der Mittelpunkt.

      Am liebsten saß ich und schaute dich verstohlens an, wenn du in deiner alten Bibel lasest. Da warst du so schön.

      Doch wohin gerate ich! Der Onkel und die Tante und die hilfreiche, hingebende Schwester des Vaters, deren besonderer Gunst ich mich immer zu erfreuen hatte, und die kluge, geistsprühende Cousine mit ihrem nie versagenden, schlagfertigen Witz, gegen den der langsamere Vetter niemals recht hatte aufkommen können, alle umringten sie uns und freuten sich über unsere Ankunft.

      Freilich, es ist vieles anders geworden in diesem Hause seit meiner Kindheit: die Vettern fehlen, sie sind flügge geworden und haben das Nest verlassen. Wie stehen auch sie mir noch alle vor Augen! Der Große, der Student, mit dem dicken Kopf, dem biedern, treuen Angesicht und dem bärenhaften Ferienfleiß, den ich damals anzustaunen pflegte, weil ich in meiner Unschuld seine tiefliegenden Semestral-Ursachen nicht kannte. Der andere, mit dem feinen Gelehrtengesicht, der als Gymnasiast so lehrhaft mit mir verkehrte und vor dessen ernstem Wesen ich immer eine gewisse Scheu hatte. Beide sind sie Pfarrer wie der Vater es ist und wie es Großvater und Urgroßvater waren – und der dritte, der kleine, mit dem blonden Lockenkopf und dem ehrlichen Leichtsinn, mein guter Spielgenosse – wie sich die Zeiten ändern! der ist auch ein würdiger Pfarrherr. Ja, was sollten denn auch drei Pfarrersbuben zunächst anderes werden als wieder Pfarrer? – – –

      Als das Abendessen verzehrt war, die Frauen ihre Handarbeiten vornahmen und unsere blauen Tabakswölklein emporstiegen und luftige Brücken bauten für Rede und Wechselrede, da begannen wir, von allem zu erzählen, was wir erlebt und gesehen hatten. Wir waren ja am Ende unserer Fahrt angelangt.

      Und es war schön, dieses Erzählen von den alten Zeiten des Geschlechts, die Mitternacht war nahe, als wir abbrachen.

      Alles schwieg, der Oheim aber lehnte sich in die Sophaecke zurück, strich seinen langen Bart und sagte: »Ja, es sind seltsame Geschicke, die unser Geschlecht getroffen haben. Auf Prädikate gebe ich nichts. Sie sind mir leerer Schall. Aber auf etwas gebe ich sehr viel: auf unsere Eigenart. Und die wollen wir sorgsam wahren. Unsere festen Sitze haben wir freilich längst verlassen und sind Nomaden geworden, die der Beruf heute dahin, morgen dorthin wirft. Aber unsere Familien sind ja auch feste Bollwerke, wenn sie richtig gefügt sind. Unsere Zeit bemüht sich, alles gar eben zu machen. Darum ist's gut, wenn wir unsere Familien mit Wall und Graben umziehen und im Innern die alten Überlieferungen hegen und pflegen.

      »Ich will euch morgen etwas vorlesen, was ich vor wenigen Wochen gefunden habe. Ich denke, es wird das eurer Fahrt einen guten Abschluß geben.«

      Wir standen auf und beteten den Abendsegen miteinander. Und wieder mußte ich an meine Knabenzeit denken: da hatte ich mich immer gar sehr in acht genommen, doch ja das Vaterunser mit derselben Betonung auszusprechen wie die Verwandten; bei mir zu Hause sprach man es etwas anders. Und ich weiß noch recht gut, wie verlegen ich jedesmal wurde, wenn ich an irgend einer Stelle in meine altgewohnte Weise hineinkam; denn ich glaubte, das müsse allen aufgefallen sein.

      Hernach ging der Onkel mit uns in die Gaststube. Da hingen die steifen, weißen Vorhänge an den Fenstern, da standen die großen, schweren Betten, da umflutete mich wieder wie in alten, glückseligen Zeiten jenes unnennbare Gemisch von Äpfel- und Seifengeruch, das dem Kinde am ersten Abend in dem Gast- und Vorratszimmer jedesmal das erhebende Gefühl des »Gastseins« so voll und ganz zum Bewußtsein brachte.

      Seltsame Welt! Da steht ein großer, fremder Mensch vor dem alten, oft angestaunten Glaskasten mit seinen kunstvollen Tassen, Gläsern und Krügen, vor der geschweiften Kommode mit ihren blinkenden Messingschildern, ans Fenster pochen leise die Zweige des Apfelbaums, wie damals, und der fremde Mensch bin ich! Ich begebe mich zu Bette, schließe die Augen und liege zwischen Wachen und Träumen – da geht unter dem Fenster der Nachtwächter vorüber, tutet dreimal auf dem Horn und singt sein altes Lied. Es fehlen nur noch die Kater auf dem Nachbardach, und der Zauber ist fertig. »Kreisrunde Welt«, denke ich bei mir und dehne mich in den Kissen, »alles wie damals, und du so verändert!«

       * * *

      In aller Frühe wachte ich auf. Der Vater schlief noch fest. Leise kleidete ich mich an und ging auf den Zehen hinaus. Ich mußte wieder einmal allein sein in der »Bibliothek«.

      Da stand ich in dem großen Zimmer, und wieder drängten sich mir die Gedanken an meine Kindheit auf.

      Wie oft hatte es uns sehr langweilig dünken wollen, wenn wir uns in den Ferien ganz stille an diesen Tisch am Fenster begeben und unsere Arbeiten machen mußten. Da saßen wir dann: der ernste Gotthelf las irgend einen Klassiker, zu dem er ein ungeheures Lexikon neben sich auf den Boden gestellt hatte, der lustige Karl schmierte mensa, mensae, und ich grämte mich über ein griechisches Pensum mit seinen fatalen Accenten. Draußen aber lachte die Sonne, und der Wald war so grün, die Hüterbuben schürten Feuer auf den Halden und brieten sich Kartoffeln, drunten floß das Flüßlein und lud zum Krebsen – warum stand auch der Apfelbaum so verführerisch nahe am Fenster! Konnte man's dem lustigen Karl verargen, daß er auf einmal draußen in seinen Zweigen und drunten auf dem Rasen war, konnte man's dem leichtsinnigen Gaste verdenken, daß er das eilends dem Haussohne nachmachte? Nein! Aber der gewissenhafte Gotthelf kam auch hinterdrein und brummte nur ganz leise – und das war schlecht von ihm.

      Heute bin ich allein, brauche keine griechischen Pensa mehr zu schreiben und habe auch gar keine Lust, durchs Fenster hinaus in den glänzenden Morgensonnenschein zu steigen.

      Ernsthaft gehe ich die großen Büchergestelle entlang, die dem Knaben einst so gleichgültig waren. Es ist die alte Familienbibliothek! Durch drei Jahrhunderte her, von den Zeiten der Reformation hat sie sich bis auf den Oheim vererbt, immer vom Vater auf den ältesten Sohn – gar oft die einzige Hinterlassenschaft. Wenn sie doch reden könnten, diese Bücher! Wie viel haben sie gesehen, wie mancher heiße Kopf hat sich über ihre Blätter gebückt und hat sich abgemüht, die Wahrheit zu finden, und hat sie nicht gefunden, wenn er sie mit dem Verstande allein suchte. In langen Reihen stehen die Kommentare da, friedlich wohnen bittere Streitschriften nebeneinander auf einem Brett; dort sehe ich ein Corpus juris, hier die Bibel, dort Merians Folianten, da Thomas a Kempis. Ich gehe weiter und weiter. Da fällt mein Blick auf eine Reihe ungebundener Schriften; sie sind vergilbt und verstaubt und sehr alt. Ich ziehe eine hervor und lese die berühmten Worte:

      »An den Christlichen Adel deutscher Nation«

      und darunter steht: Hans von Kerdern, Burgermeister in Hohendrazz zugehörig.

      Ich nehme ein zweites; auf dem steht:

      »Wider die mordischen und reubischen Rotten der Bauern«

      und jetzt bin ich nicht mehr im stillen Pfarrhaus, nicht mehr bei meinen Jugenderinnerungen, sondern weit zurück bei meinen Altvordern auf dem Nordgau. Ich suchte mir Bilder zu machen von jenen Zeiten, in denen die römischen Fesseln brachen, wog die gelben Blätter in meinen Händen und träumte von den großen Marksteinen der Geschichte.

      Da öffnete sich die Thüre, der Oheim kam herein. Ich grüßte ihn ehrerbietig, er gab mir mit freundlichem Lächeln die Hand. Dann ging er auf eines der Gestelle zu und hob einen schweren Folianten herab. Der war kunstvoll in gepreßtes Leder gebunden und durch schwere Spangen verschlossen. »Sieh her,« sagte er und öffnete das Buch. Es war die deutsche Bibel vom Jahre 1545 – die letzte Ausgabe, die Luther selbst revidiert hatte. Jetzt schlug der Oheim das letzte Blatt auf, schlug es um und drückte auf eine abgegriffene Stelle des Holzdeckels, der sehr dick war. Mit leisem Geräusch sprang dieser auf, und der Oheim hielt mir ein dünnes Folioheft unter die Augen. Und ich las:

       Mein, Jörg von Kerderns, Chronika. Für meine Posterität aufgezeichnet, Anno Domini 1628.

      Ich

Скачать книгу