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seiner Person. Nach fünf Minuten eilten Schutzleute in die Winternacht hinaus.

      Jetzt kam ein Wagen angerasselt. Der Vetter stürzte in das Zimmer. Er war totenbleich, und das böse Gewissen sah aus seinen Augen. Ich trat ihm entgegen. Er tastete nach meinen Händen, als wollte er sich daran klammern.

      »Das Nächste ist besorgt,« sagte ich. »Wir können jetzt nichts thun, als warten. Fasse dich!«

      »Warten!« stöhnte er und bedeckte das Antlitz mit den Händen. – –

      Ja, es war ein entsetzliches Warten in jener Nacht. Von fernher drang verworren der Lärm der großen Stadt in das stille Amtszimmer. Alle halben Stunden kam das Dienstmädchen der Cousine, und immer wieder mußte ich es ohne Trost entlassen. Der Vetter hatte sich in die dunkelste Ecke auf ein Sofa gesetzt und starrte vor sich hin. Ich stand an einem der hohen Fenster und schaute in den schwarzen Hof hinaus. Das Feuer im Ofen krachte, der Beamte schrieb an seinem Pulte, und seine Feder fuhr knisternd über das Papier. Die Minuten wurden zu Stunden, und die Stunden wollten sich zu Nächten dehnen. Zuweilen kam ein Schutzmann herein, und mit ihm drang ein eiskalter Luftstrom aus dem Korridore in das Zimmer. Und wieder ward es ganz stille in dem weiten, dunklen Gemache, nur das Feuer krachte, und nur die Feder knisterte. Aber um so geschäftiger, um so lauter war die Phantasie, die entsetzliche Phantasie. Mit Geisterhänden zog sie meine Gedanken hinaus unter den blitzenden Sternenhimmel, hinein in die Gassen der Stadt. Ich sah, wie das verschüchterte Kind, das sich nicht heimzugehen getraute, mit verweinten Augen, müde an den Häusern durch das Gewühle der Menschen hinschlich, ich sah, wie es sich allmählich aus den belebten Straßen in die öden Stadtteile verirrte, ich ging mit ihm immer weiter und weiter, der Schnee knirschte, und aus der Ferne her rauschte der Fluß. Jetzt stand der Knabe zitternd auf der langen, menschenleeren Holzbrücke, und ich sah, wie er sich über das Geländer beugte, wie er kämpfte mit der Todesangst und mit der Angst vor der Strafe. . . . . Immer weiter beugte er sich hinab, die schwarzen Wellen trieben eilig daher und stießen einander und sangen verwirrende Lieder. . . .

      Da! Wieder war ein Schutzmann in das Zimmer getreten, hatte sich das Eis vom Bart gestrichen und sprach flüsternd mit seinem Vorgesetzten. Jetzt kam dieser langsam auf mich zu; er wollte mir etwas sagen – etwas Entsetzliches. Der Verzweifelte auf dem Sofa aber sprang auf und rief heiser: »Sagen Sie's nur! Er ist tot! Ich will alles wissen!« Bekümmert erwiderte der Beamte: »Wir wissen noch gar nichts Bestimmtes; aber ein Schutzmann, der soeben in der Kanalvorstadt abgelöst wurde, erzählt von einem Knaben, den sie aus dem Fluß gezogen haben. Näheres kann er nicht sagen; aber er weiß, wo der Verunglückte hingebracht wurde. Wenn Sie hinausfahren wollen, kann er den Weg zeigen.«

      Die letzten Worte hörten wir kaum mehr. Eine Droschke wurde angerufen, wir sprangen ein, der Schutzmann schwang sich auf den Bock, und im Galopp ging es hinaus in die Vorstadt. Wie lange, wie entsetzlich lange erschien mir die Fahrt! Der Wagen rollte über den pfeifenden Schnee. Die Laternen flogen vorüber. Ich kratzte ein Stück der gefrorenen Scheibe frei und starre hinaus. Seltsam, es war derselbe Weg, den auch vor wenigen Minuten meine Phantasie geführt hatte! Die Straßen wurden öder, die Laternen standen weiter auseinander, jetzt rauschte der Fluß, jetzt fuhren wir langsam über die Holzbrücke, dann ging es wieder im alten Tempo weiter, und endlich hielten wir mit einem Ruck vor einem niedern Hause. Ein Haufe Neugieriger umdrängte die kleinen Fenster, die Vordersten schauten gespannt in die Stube hinein und tauschten leise Bemerkungen. Der Schutzmann bahnte uns den Weg, und wir standen in der warmen, dampferfüllten Stube einer Wäscherin. Eine trübe Lampe hing an der Decke und warf ihr unsicheres Licht über einen Tisch und über den entkleideten, leblosen Körper eines halbgewachsenen Knaben. Ein Blick auf das bleiche Antlitz – es war unser Kind nicht. Aber unwillkürlich blieben wir stehen und sahen dem Arzte zu. Es war ein alter Herr; er hatte den Rock ausgezogen und waltete mit bekümmertem Gesichte seines Amtes. Neben dem Tische kniete ein Weib in dürftigen Kleidern und schluchzte laut. »Es ist ihr Einziger,« sagte ein Mann, der neben uns stand. Sonst war es ganz stille, und nur zuweilen gab der alte Herr kurze Befehle an die Wäscherin und an die Männer, die ihm Handreichung thaten. Es war ein jammervoller Anblick – aber der Jammer in unsern Herzen war gerade so groß. Der Vetter zog mich leise aus der Stube fort, wir stiegen in unsern Wagen und fuhren ab. Da kam plötzlich Bewegung in den Haufen vor den Fenstern. Wir hörten noch schreien: »Er lebt! Er lebt! Ein Hoch dem Doktor!« Der Vetter aber lehnte sich tief in die Kissen zurück und schluchzte laut. –

      Nach einer Viertelstunde saßen wir wieder in dem Zimmer des Beamten und nahmen das schreckliche Warten von neuem auf.

      Ich will sie nicht weiter schildern, jene Nacht, die ich niemals vergessen werde. Es war ja immer dasselbe Einerlei: Ich ging auf und ab, der Vetter saß gebrochen auf dem Sofa, in den Straßen wurde es allmählich totenstill, rapportierende Schutzleute kamen und gingen, die Beamten lösten sich ab – von dem Knaben hatte man keine Spur gefunden.

      Der Morgen dämmerte heran. Ich stand wieder am Fenster und schaute müde und abgespannt zu, wie die Finsternis wich und ganz allmählich die Umrisse der hohen Hofmauer in graues Frühlicht traten. Der Vetter war seit einer Stunde in einen unruhigen Halbschlummer gefallen, aus dem er oft stöhnend emporfuhr und fragte: »Noch nichts?« – »Noch nichts,« lautete meine immer gleiche Antwort.

      Es war um acht Uhr. Da hörte ich auf einmal von fernher Stimmen und eilige Schritte. Ich lauschte. Die Schritte kamen näher. Die Thüre wurde aufgerissen. Der Beamte von gestern stand auf der Schwelle; hinter ihm sah ich Schutzleute. »Herr Rat!« rief er in die Stube. »Herr Rat! da ist er!«

      Der Schläfer erwachte und starrte auf die Thüre. Der Beamte aber zog aus dem dunklen Korridore den Knaben herein. Ich hätte jubeln können – es war Hans.

      Stille stand er da, das Haupt ein wenig auf die Seite geneigt, als zaudere er, weiter zu gehen, und angstvoll schaute er auf seinen Vater hinüber. Der aber sprang empor, eilte auf das Kind zu, schloß es in seine Arme, bedeckte sein Antlitz mit Küssen, streichelte seine Locken und konnte nichts hervorstoßen als: »Mein Sohn! Mein Sohn!«

      Jetzt ließ er ihn aus den Armen, hielt ihn von sich ab und sah ihm lange in die Augen. Das Kind aber öffnete mit Anstrengung die Lippen und sagte langsam: »O Papa, ich habe ›fast ungenügend‹.«

      Und wieder schloß der Vater seinen Knaben ans Herz. –

      Wie er gerettet worden war? Nach der Schule hatte ihn die Angst zur Stadt hinausgetrieben. »Nur nicht heim, nur nicht heim!« Das war sein einziger Gedanke gewesen. Und so lief er immer fort auf der Landstraße, immer fort in den frühen Abend, in die Nacht hinein. Draußen endlich, dort, wo die Straße durch den großen Wald geht, konnte er nicht mehr weiter vor Kälte und Erschöpfung. Er setzte sich auf einen Stein am Wege und wollte nur ein wenig ausruhen. Dort wurde er halberstarrt von einem Milchbauern bemerkt, der aus der Stadt heimfuhr. Der Mann hob den Knaben auf seinen Wagen, brachte ihn in sein Dorf, gab ihm zu essen und steckte ihn in ein Bett. In aller Frühe nahm er ihn wieder mit sich in die Stadt und lieferte ihn auf der Polizei ab; denn der Knabe hatte ihm um keinen Preis die Wohnung seines Vaters gesagt.

      Der Vetter hat seinen Knaben nicht mehr gescholten oder geschlagen, wenn er einmal eine schlechtere Note heimbrachte. Auch verlangte er nicht mehr von ihm, daß er »glänze«. Er überließ ihn von nun an dem sanften Einfluß der Mutter; denn es mochte ihm in den qualvollen Stunden jener schrecklichen Nacht wohl die Erkenntnis von seiner erzieherischen Unfähigkeit gekommen sein. –

      Für seine eigene Person nahm er keine Lehre aus jenen Erfahrungen. Im Gegenteil, es war, als wollte er durch doppeltes Streben ersetzen, was er an Hoffnung auf eine glänzende Zukunft seines Kindes verloren zu haben glaubte.

      So jagte und hastete er weiter. Vor ihm rollte auf der glänzenden Kugel seine Göttin. Viele rannten neben ihm, vor ihm, hinter ihm. – –

      Da warf man einen kleinen Stein in die Bahn vor seine Füße, und er stürzte, gerade als er die Hand nach dem höchsten Posten ausstrecken wollte. Es war nur ein kleiner Stein, doch er kam durch ihn zu Fall. Er hätte den Posten verdient, er hätte das nächste Anrecht darauf gehabt – ein Günstling wurde ihm vorgezogen. Eine so einfache, selbstverständliche Sache, eine Sache, die alle Tage vorkommt. Dem armen Menschen aber brach sie das Herz; denn er kannte ja

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