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Ich wandte mich um. In der Wohnung des Vetters im zweiten Stock brannte noch Licht. Die weißen Vorhänge waren herabgelassen, und ich sah zuweilen einen dunklen Schatten an ihnen, der sich hastig hin und herbewegte. Ich ging mitten auf die Straße. Der Schatten bewegte sich immer noch, und ich vermochte nun auch einzelne Worte aus den geschrieenen Sätzen zu unterscheiden. Der große Pädagoge nahm mit seinem Kinde griechische Vokabeln durch.

      Ich stand regungslos. Die feinen Tropfen fielen auf mich herab, und in meinen Ohren gellte das entsetzliche Geschrei. Wie gebannt sah ich zu den Fenstern empor, der Schatten ging auf und nieder, ich glaubte, ein wutbebendes Menschenantlitz zu sehen, ich dachte an den sanften, schüchternen Knaben, über den sich dieses Geschrei ergoß, ich glaubte, auch sein bleiches, abgespanntes Gesicht zu schauen, ich stellte mir vor, wie er sich müde und verweint zusammenduckte unter der gräßlichen Erschütterung und seine Gedanken nicht mehr zusammenzufassen vermochte. Das Entsetzen und der Zorn packten mich. –

      Am andern Morgen erzählte ich der Mutter, was ich gehört hatte, und sie teilte mir mit, daß dem kleinen Hans das Griechische Schwierigkeiten bereite.

      »Ah,« sagte ich, »das ist der Rückschlag. Die Sehne war zu straff gespannt, nun bricht der Bogen. Und heute ist ja die erste Probearbeit; da war wohl das, was ich gestern hörte, die Vorbereitung. O du Thor!«

      Als ich den Vetter am selben Tage noch traf, machte ich ihm rückhaltlose Vorwürfe und sagte ihm, daß er sein Kind auf diese Weise in kürzester Zeit zu Grunde richten werde.

      Er verstand mich nicht, sprach von Starrsinn und Flatterhaftigkeit und schloß mit den Worten: »Laß' du mich nach meinen Grundsätzen verfahren. Sein eigenes Fleisch und Blut kennt man am besten. Ich will den Baum biegen, so lange er jung ist, und Hans wird mir's einstens danken, wenn ich streng gegen ihn war.«

      Ich konnte nichts ausrichten. Er dressierte den Knaben auf Carriere, wie man einen Hund hetzt auf die Strohpuppe. Nach einigen Tagen kam das Ergebnis der Probearbeit heraus. Du, der gutbegabte Leichtfuß, hattest die dritte Note bekommen. Fritz aber, dem das Lernen viel langsamer einging, hatte die Zwischennote »drei zu zwei.« Ich weiß es noch sehr wohl: ich sprach dir ernsthaft zu und diktierte dir eine kleine Strafe. Denn du konntest besser arbeiten, wenn du wolltest. Zuletzt fragte ich dich, warum du nicht auch die Note III–II bekommen habest.

      »Ach Papa,« sagtest du kleinlaut, »ich habe um einen Viertelsfehler mehr als Fritz; ich habe 17¼ und Fritz hat nur 17 Fehler. Mit 17 Fehlern hätte ich noch III–II.

      Wir setzten uns zu Tische, es wurde nicht weiter über die Angelegenheit gesprochen. Ich machte mir meine besonderen Gedanken über Klausurarbeiten und Angstprodukte im allgemeinen und über Viertelsfehler im besondern.

      Abends fragte ich euch nach Hansens Note.

      »Ach, Onkel, der hat auch Note III,« sagte Fritz, »und weil er so geweint hat, ist er vom Herrn Professor vor die Thüre geschickt worden.«

      Ich warf der Mutter einen Blick zu. Sie sah mich traurig an; denn sie liebte den kleinen Neffen sehr. –

      Ihr Kinder waret längst in den Betten. Die Uhr ging stark auf die elfte Stunde. Da rief mich die Mutter in das Nebenzimmer, öffnete leise das Fenster und sagte: »Höre!«

      Wieder bewegte sich drüben hinter den weißen Vorhängen der kleine Schatten, wieder donnerte und schrie und kreischte es, und dazwischen hörte ich klatschende Schläge. Die Mutter flüsterte: »Barmherziger Gott, welche Sünde! Der martert sein zartes Kind noch zu Tode.«

      »Ich habe das Meine gethan,« sagte ich und schloß das Fenster. »Ich kann gar nichts mehr thun. Der Vetter bricht sofort ab, wenn ich die Rede darauf bringe.« –

      Lange noch glaubte ich in meinen Träumen das Geschrei zu hören, und ich sah das erbarmungswerte Kind, wie es sich tief herabduckte auf sein nasses Heft.

      Immer rauher wurde es draußen in der Natur, immer schwerer wurden die griechischen Deklinationen in der Schule, und immer trübseliger wurde das Gesicht des kleinen Hans. Wer ihm doch hätte helfen können! Er kam gar nicht mehr hinauf über seine Dreier.

      Es war in der letzten Woche vor Weihnachten. Tiefer Schnee lag, eine grimmige Kälte herrschte. Alles rüstete sich auf das Fest, und in der dritten Lateinklasse wurde noch eine Probearbeit geschlagen, die letzte vor den Ferien.

      »Sie war sehr schwer,« sagtest du am Abend; »aber ich glaub', ich habe nicht viele Fehler gemacht.« – »Ich glaub', mir ist's nicht recht gut gegangen,« sagte der bedächtige Fritz.

      »Nun, wir werden sehen,« lautete meine Antwort. »Gelernt habt ihr ja ordentlich, das weiß ich wohl.«

      Ihr sagtet »Gutenacht«.

      Als auch wir zur Ruhe gehen wollten, rief mich die Mutter wieder ins Nebenzimmer. Und wie so oft schon hörten wir das schreckliche, nervenzerrüttende Schreien. Nach und nach verstand ich abgerissene Worte. Der Mensch nahm mit seinem Kinde das Konzept der Probearbeit durch. »Zwanzig Fehler!« schrie er. »Da bekommst du ja einen Vierer! Aber warte dann! Freue dich auf den Christabend und auf die Feiertage. Ich schlage dir den Leichtsinn aus dem Leibe. Du wirst mir nur Schande machen, du Bursche!«

      Seufzend schloß ich das Fenster und fragte: »Was sagt denn die Mutter dazu?«

      »Sie weint immer,« lautete die Antwort.

      Am Tage vor dem Christabend wurde die Probearbeit herausgegeben! Ich kam an jenem Nachmittag schon frühzeitig nach Hause. Fritz sprang mir entgegen: »Hurrah! Note II.«

      »Brav! Und hast gedacht, es sei dir schlecht gegangen.«

      Da kamst du kleinlaut heran.

      »Nun?«

      »Note III, Vater.«

      »Aber Georg! Leichtfuß!« –

      »Ach, Vater, die war auch arg schwer. Der Hans . . .«

      »Was ist's mit dem Hans?« rief ich und hatte eine böse Ahnung.

      »Der hat III–IV.« –

      Ich schwieg. Aber diese fatale Note – »fast ungenügend« – hätte ich heute lieber in meinem Hause gesehen, als da drüben. –

      Da streckte unsere Köchin den Kopf zur Thüre herein: »Die Frau Rätin läßt fragen, ob der Hans vielleicht bei uns ist.«

      Wir verneinten. »Er ist heute gar nicht mit uns heimgegangen,« sagtet ihr. »Er hat noch auf den Herrn Professor gewartet.«

      Das Mädchen entfernte sich, und ihr erzähltet, Hans habe sich in der Klasse vor den Lehrer hingeworfen und ihn flehentlich gebeten, ihm doch einen »halben Fehler« nachzulassen; dann hätte er noch die dritte Note. Der Lehrer habe das natürlich nicht thun können, er habe ihn aber aufgehoben, habe ihm freundlich zugesprochen, er solle eben das nächste Mal besser arbeiten. Hans habe die Hände gefaltet, habe gefleht und schrecklich geweint.

      Es ergriff mich Sorge um das Kind. Ich warf meinen Mantel um und eilte über die Straße zur Cousine.

      Die zarte Frau war in großer Aufregung. Sie stand zum Ausgehen gerüstet, und ich bot ihr meine Begleitung an. Auf dem Wege zum Lehrer des kleinen Hans erzählte ich ihr das Gehörte. Da brach sie in krampfhaftes Weinen aus und sagte: »Mein armes, armes Kind! Ich glaube, es thut sich ein Leid an. Es fürchtet seinen Vater. Was wir beide aber in den letzten Wochen ausgestanden haben, das weiß der liebe Gott allein!« –

      Wir kamen zum Lehrer. Er wußte nichts über den Verbleib des Kleinen. Er war sehr bestürzt; denn er liebte den braven Schüler. Wer hätte dieses Kind auch nicht lieben sollen? –

      Wir riefen die nächste Droschke an und fuhren zum Gymnasium. Das große Gebäude lag dunkel und öde. Lange mußten wir vor dem Thore warten, und ich hatte Zeit, mich an jenen sonnigen Herbstmorgen zu erinnern. Endlich kam der Pedell. Auch er wußte nichts von dem Knaben.

      Ich wandte mich zu der zitternden Mutter: »Nun fährst du am besten aufs Bureau zu deinem Mann und bestellst ihn auf die Polizei. Ich gehe die paar Schritte zu Fuß hinüber und mache die Anzeige. Er trifft

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