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ein anderer. »Wer weiß, vielleicht werden sie jetzt auch gleich gemacht, die Juden, von den Franzosen! Was sollten sie also laufen davon?«

      »Oho, das wär' auch was!« gröhlte einer in der vordersten Reihe. Und nun ging ein lautes, behagliches Lachen durch den ganzen Haufen. Der Jude Salomon aber strich den Bart und sagte leise, daß es niemand vernahm: »Wer weiß?«

      »Weiter, Nachbar Koram!« schrieen zwei, drei aus dem Volke. Und der Schneider las: »Die Bewohner der Länder, wodurch die Armee ziehen wird, sind gehalten, auf der Stelle ihre Waffen an die Orte niederzulegen, welche dazu den Vorstehern und Bürgermeistern werden bezeichnet werden.«

      »Das hört sich schon gröber an!« rief einer über die Köpfe der andern.

      »Ist ja nur wegen der Ordnung,« belehrte der Schneider. »Ordnung muß einmal sein. Und wenn der Franzos Ordnung halten will, dann muß er auch da nach dem Rechten sehen.«

      »Meinen Schießprügel geb' ich nit 'raus,« rief der andere. Und wieder ging das Murmeln durch den Haufen.

      »Ist ja noch gar nit so weit,« beruhigte der Schneider und machte ein ärgerliches Gesicht. Und plötzlich sprang er auf die Steinbank, fuchtelte mit den langen Armen, schob die rote Mütze in den Nacken und rief, daß man's auf dem ganzen Marktplatz hörte: »Bürger, laßt euch sagen, die Hauptsach ist jetzt, daß der Schurdang unseren guten Willen sieht, und den kann er uns naturmang nit an der Nase absehen, also müssen wir's ihm handgreiflich machen.« Er hob seine rote Mütze vom Schädel und schwenkte sie. »Wir müssen dem Franzosen zeigen, Mann für Mann, daß wir wissen, was Brauch ist. Ich hab' mich vorgesehen – das Stück kostet dreißig Kreuzer –.«

      »Holla!« unterbrach ihn einer aus dem Haufen. »Seit wann ist es denn erlaubt, daß die Schneider den Leuten auch Hüte verkaufen? Das wird man dir weisen von Zunft wegen.«

      Der Schneider kreischte vor Vergnügen und warf die Mütze hoch empor, fing sie auf, stülpte sie über den Schädel. »Von Zunft wegen, Bürger Huterer? I, den schaut an! Meint der, daß grad vor den Huterern die Gleichmacherei aufhört!«

      »Na, die Zünft' werden s' aber doch noch respektieren, die Franzosen!« rief ein anderer.

      »Respektieren?« Der Schneider zappelte mit Händen und Füßen. »Gar nix wird respektiert. Hört ihr's nit? Links – rechts – links – rechts, so kommt's, und der Erdboden wackelt, und es ist nimmer zum Aufhalten, es geht über und über, und was hoch ist, muß nieder werden, und was bucklig ist, muß grad werden, und was ein guter Bürger ist und hat seinen Verstand in Ordnung und weiß was von der Zeit, der muß jetzt das Herz in die zwei Händ nehmen und mit mir schreien aus Leibeskräften: der Schurdang soll leben, vivat hoch –!«

      Etliche aus dem Haufen schrieen mit, und draußen vom äußersten Ringe antwortete die Jugend, Buben und Mägdlein – »vivat hoch!«

      Der Schneider schwenkte die Mütze und schrie mit gellender Stimme zum zweitenmal – »vivat hoch!« Und nun schrieen schon die meisten im Haufen – die einen, weil's gar nichts kostete, andere, weil ihnen die Gänsehaut der Begeisterung über den Buckel kroch, wieder andere, weil sie doch auch ihren Verstand beisammen hatten, viele, weil sie vom großen Umschwung der Dinge die Erlösung von all ihren besonderen Übeln erhofften. Die Schuljugend aber hörte überhaupt nicht mehr zu schreien auf, und als der Schneider zum dritten Male vivat rief, da brüllte und kreischte alles weit umher.

      Koram war von der Steinbank heruntergestiegen, und sie umdrängten ihn und schrieen alle zusammen auf ihn hinein, und wenn er sich aufrecht hielt, dann sah sein gelbes, faltiges Gesicht mit dem fahlen Backenbarte unter der roten Mütze weit über alle Köpfe hinaus. Er hatte aber eine bewegliche Gemütsart, konnte nicht lang gerade stehen, ließ sich fort und fort in die Knie sinken, patschte seine dürren Schenkel, und also tauchte sein Kopf immer wieder hinab und fuhr empor, und er war anzusehen –

      »Wie ein großer Affe!« sagte der Handelsmann, der weit drüben an seinem Ladenfenster stand.

      »Zum Lachen,« sagte neben ihm der alte Mann, der vorhin den Schneider nach dem Nutzen gefragt hatte.

      Der Handelsmann zog die Stirn in Falten. »Ja wohl, zum Lachen, wenn er als Vogelscheuche in einem Krautacker stände, der Kerl mit der roten Mütze; so aber –.« Und nun riß er die Türe auf und rief mit seinem dröhnenden Basse über den Marktplatz: »Nur die allergrößten Kälber wählen ihre Metzger selber!«

      Schade, daß ihn niemand verstehen konnte; denn die Kinder schrieen gerade wieder vivat, daß es gellte zwischen den Fachwerkgiebeln der Häuser.

      *

      Es war ein Haus hinter der Kirche, ein altes Haus, über dessen Türe die Worte »artibus et litteris« standen. Zu ebener Erde waren die Fenster offen, und die zehn Knaben auf den bös zerschnitzten Schulbänken lauschten mit gierigen Augen auf das Vivatrufen. Einer von ihnen aber stand mit dem Buche in der Hand und las mit lauter, eintöniger Stimme: »Was kümmern mich die fremden Völker? Ich lobe sie, aber ich liebe nur mein Vaterland. Sorge du vor allem, daß du deinem Vaterlande nützest. Der brave Mann fragt immer zuerst und zuletzt, was dem Vaterlande nütze.«

      »Übersetzen!« befahl der jugendliche Lehrer, der am Katheder lehnte, und der Knabe übersetzte fließend ins Lateinische, bis er an die Stelle kam – was dem Vaterlande nütze. Und er übersetzte quid prodest patriae.

      Da stampfte der Lehrer und sagte: »Falsch!«

      »Quid patriae prosit,« plärrte der kleine Lateiner.

      Der Lehrer zog seine dicke Sackuhr. »Ihr Buben, wir haben zwar erst dreiviertel, aber heut ist halt auch ein ganz besonderer Tag.«

      Die Buben saßen mit gereckten Hälsen.

      »Und wißt ihr denn, was jetzt in der Welt los ist?«

      »Die Franzosen kommen!« schrieen die Zehn wie aus einem Rachen.

      Wieder tönten vom Marktplatze die Vivatrufe herüber.

      »Und was bringen die Franzosen der Welt?«

      »Freiheit!« schrieen die Zehn.

      »Und –?« Der kleine, schlanke Lehrer war auf den Katheder gestiegen, seine glänzenden Augen waren in weite Ferne gerichtet.

      »Gleichheit!« rief der Primus.

      »Und –?« rief der Lehrer.

      »Brüderlichkeit!« brüllte der Chorus.

      »Dann lauft, was ihr laufen könnt, und schreit mit denen auf dem Markte vivat!«

      Jauchzend sprangen sie empor, rafften die Bücher zusammen und stürmten aus der Stube, hinaus auf die stille Gasse, um die Ecke zum Marktplatz.

      Die Hufe eines Pferdes klapperten über die Steine, und ins offene Fenster guckte der Reiter.

      »Es geht los!« rief er in die Schulstube hinein: »Auf dem Markte steht der Koram, hat eine Jakobinermütze auf dem Kopf und predigt allem Volk.«

      »Der Koram?« Das Gesicht des Lehrers verzog sich.

      »Und General Jourdan hat einen Aufruf anschlagen lassen.«

      »Nun – und –?« rief der Lehrer.

      »Schöne Worte, kraftvoll, trostvoll, liebevoll,« antwortete der Reiter mit nachdenklichem Ernste.

      »Hab' ich's nicht gesagt?« triumphierte der Lehrer. »Doktor, was stehst du draußen, binde deinen Gaul an den Ring, komm zu mir herauf und trinke ein Glas Wein auf sein Wohl!«

      »Muß noch einen Patienten besuchen, Bruder. Und jetzt schon auf sein Wohl trinken? Nein, das kann ich denn doch nicht.«

      »Bruder, komm!« Der Lehrer hatte die Hände gefaltet. »Nur zehn Minuten!«

      »Nun, meinetwegen.« Der Arzt stieg ab, band sein Pferd an und trat ins Haus.

      Der Lehrer stürmte ihm entgegen, faßte ihn unter dem Arme und zog ihn die enge, steile Stiege empor. Und es klang wie unterdrücktes Jauchzen, was er nun hervorbrachte:

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