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und dem großen Dorf, das sich hoch oben um den schlanken Bergfrid gelagert hat wie eine Ziegenherde um den graubärtigen Hirten; vor dem Walde dort glänzt ein großes Schloß, weiter drüben noch eines, und aus den Tannen selbst ragt ein schwarzer Turm. Ich habe ernste Gedanken bei dem Anblick der alten Grenzwächter des Nordgaus. –

      Der Herbst ist allenthalben vor der Thüre, aber es ist, als ob er hier oben schon früher Einlaß heischen wolle. Ein großes Volk von Staren fliegt schreiend über die Wiesen im Grunde. Sie halten Heerschau und üben ihre Jungen; es ist ihnen nicht mehr geheuer, sie denken an die Heimfahrt. Warte, über ein kleines, dann werden die Strahlen der Sonne schwach, dann fegen kalte Stürme vom Norden her über das hochgelegene Land und schütteln die Bäume, und was Blätter hat, das muß sie lassen. Und wieder über ein kleines liegt die weiße Decke da und spannt sich aus von den dunklen böhmischen Wäldern her, legt sich über den breiten Bergrücken, wirft ihre Falten hin auf den Grund, kriecht empor zum Landgrafenschlosse, und die schwarzen Wälder ächzen unter der weißen Last. Dann trägt der Bergfrid drüben eine weiße Kappe, und das Burgdach am Walde trägt auch eine, und an den Dächern der Schlösser hängen Eiszapfen. Dann sind die Staren längst fortgezogen, es ist alles tot im Lande der Hügel, nur da und dort steigt Rauch aus den verschneiten Dörfern empor, nur da und dort streichen krächzende Raben über die Fläche. –

      Langsam sind wir in der Dämmerung auf dem Berggrat weitergegangen bis dahin, wo er rasch gegen Mitternacht zum Thale abfällt.

      Der Mond steigt hinter den böhmischen Bergen empor; eine mächtige Steinlinde streckt einen gewaltigen Ast über den dämmerigen Weg herüber. Sie ist wohl uralt und seltsam anzusehen; es ist, als ob ihr die Krone fehle. Ein kalter Wind streicht um den Baum; es fröstelt uns, und wir wollen rasch vorübergehen.

      Da tritt ein mißgestalter Mann aus dem Dunkel hervor, zieht seine Mütze und bietet uns einen guten Abend. Wir erwidern den Gruß. Es ist der erste Mensch seit einem halben Tage.

      »Wie weit haben wir noch nach Hohendreß?« fragt der Vater.

      Der Mann tritt heran, schlenkert mit den Armen und lacht blöde: »Vom kalten Baum auf Hohendreß – ich weiß nicht.«

      »Ist das der kalte Baum?«

      »Ja, Herr.«

      »Warum heißt er denn ›der kalte Baum‹?«

      »Halt wegen dem kalten Wind, ist halt verhext,« sagt er und lacht.

      Ich trete näher an die Linde und sehe, daß ihr Stamm hohl ist. Den Straßengraben entlang stehen viele Totenbretter, neue und alte. Der Wind streicht in kurzen Stößen durch die Äste, die Blätter rauschen.

      »Alle Jahre schlägt er aus wie die andern Bäume und ist aber viel anders als die andern Bäume,« sagt der Mann, und ich weiß nicht, ob er das zu uns sagt oder ob er mit sich selber spricht. Er schaut uns nicht an, der kalte Wind zaust seine Haare, und er dreht sein Käpplein zwischen den Händen. Der Vater sagt, er solle es aufsetzen, aber er hört nicht und redet weiter:

      »Den Baum kann niemand nennen, er sieht nur aus wie ein Lindenbaum. Er ist auch nicht faulig; der Ast da droben muß ja noch den großen Reiter tragen, wenn der Feind kommt, den du gar nicht zählen kannst. Da wird drunten und überall eine Schlacht sein um den Baum her, daß das Blut die Mühl' bei Linda treibt. Der Baum, den du nicht nennen kannst, wird stehen bleiben, bis alles zu Grunde geht. Hernach kommen aber neue, reiche Menschen, und alle armen Menschen sind tot.«

      Das Männlein hat zuletzt ganz laut und fest gesprochen. Dann sagt es unterwürfig mit weinerlicher Stimme: »Bitt' gar schön, schenkt's mir einen Kreuzer.«

      Der Vater reicht ihm eine Gabe, und es trollt weiter. Der Vater fragt mich, was das gewesen sei. Ich antworte: »Ein Blöder, der uns eine der ältesten Sagen seines Volkes erzählt hat.«

      »Du hast recht,« sagt der Vater. »Es klang wie Auferstehen und Gericht.«

      Langsam gehen wir unter dem Baum vorbei und sehen hinaus ins Land. Über den böhmischen Wäldern steht jetzt die volle Mondscheibe und übergießt die dunkle Landschaft mit ihrem weißen Lichte, weithin gegen Morgen, Abend und Mitternacht wallen die Nebel. Hinter uns rauschen die Blätter der Linde – wohl vom Herbst und vom Gehen, oder gar von dem geharnischten Reiter, von der schrecklichen Schlacht, von den Blutbächen, von der Götterdämmerung, von der Furcht vor einem Weltgericht, von der Hoffnung auf bessere Zeiten und von einem alten, verdrängten Glauben, der durchs Land irrt im Bettlergewande der Sage? Wer weiß es? –

      Aber da! Vor uns, auf gleicher Höhe mit dem Berggrat, über dem weißen Nebelmeer drüben, ragt ein Schloß mit hohem Dach, mit dicken, runden Türmen; hinter ihm steht ein langgestreckter Hügel mit schwarzen Wäldern; das Mondlicht spielt auf den Wäldern, auf dem Nebel und auf dem Dach des Schlosses; das Schloß liegt da wie ein großes Auswandererschiff, vor einer stillen Insel verankert. Lange schauen wir hinüber. Es ist das Schloß von Hohendreß, es ist die Heimat unserer Väter.

      Ubi sunt, qui ante nos?

       Inhaltsverzeichnis

      Wo sind sie denn, die vor uns waren? Sie hatten sich doch einst so feste Häuser gebaut und hatten sich so wohnlich auf der Erde eingerichtet. Sie hatten doch so treu gearbeitet, sie hatten doch so große Achtung genossen. Sie hatten doch so viel gekämpft und so mannhaft gelitten. Sie hatten sich doch mit so weiten Plänen getragen; man hatte sie doch für unentbehrlich gehalten. Wo sind sie denn?

      Sie hatten ihre Äcker bestellt, sie hatten gelebt, geliebt, gehofft, gezagt. Sie hatten Ämter innegehabt, gewichtige Ämter, sie hatten Erfolge errungen, sie hatten sich mit Sorgen getragen, mit Sorgen, die ihnen so groß wie Berge vorkamen.

      Wo sind denn die großen Sorgen, die schönen Erfolge, die gewichtigen Ämter, wo ist denn ihr Zagen, ihr Hoffen, ihr Lieben? Wo sind sie denn?

      Sie sind vergessen in ihrer Stadt. Ihre Häuser sind längst verschwunden, oder Fremde haben ihre Wohnungen darinnen aufgeschlagen. Ihre Habe ist längst zerstreut, von ihrer Arbeit weiß niemand. Die ihnen Ehre geschenkt haben, sind tot, die ihre Feinde waren, sind gleich ihnen vergessen; neue Geschlechter bücken sich vor einander, neue Geschlechter bekämpfen sich. Die Pläne der Alten sind begraben, Hunderte hat man nach ihnen für unentbehrlich gehalten und hernach – entbehrt, vergessen.

      Es müssen doch Spuren von ihnen vorhanden sein? Die Waldameise bahnt sich Straßen und Wege durch den Sand – ein Platzregen geht herab und verwäscht sie. Aber die stolzen Menschenwege sind doch breiter und fester? Dort im Rathaus müssen ihre Ämter verzeichnet sein, hier im Pfarrhaus müssen ihre Namen zu finden sein, laß dir die Kirche aufschließen und suche nach ihren Grabsteinen, suche, suche, du mußt ihre Spuren finden. Suche, sonst packt dich ein Entsetzen über die Nichtigkeit des Daseins.

      Und wir haben gesucht. Wir sind aufs Rathaus gegangen – wir haben nichts gefunden. Wir sind zum Pfarrer gegangen – wir haben nichts gefunden.

      Sie haben uns erzählt: Vor zwanzig Jahren war ein großer Brand. Der zerstörte den halben Ort samt dem Rathause und der Kirche und mit ihnen alle Dokumente aus der alten Zeit. Nur das Schloß blieb verschont, weil die große Linde im Schloßhof mit ihren Ästen die roten Funken auffing, die alten Dächer rettete und sich dabei zu Tode sengte.

      Wir sind auch um die Kirche gegangen. Wo einst der Friedhof gewesen war, dehnte sich unter Linden und Kastanien ein großer Rasenplatz, und auf den eingesunkenen Grabhügeln sangen und spielten und tanzten die Kinder des neuen Geschlechts. Das graue Schloß schaute auf den Platz herab, der ewige Himmel war darüber ausgespannt, droben im Kirchturm aber ging rastlos ein Pendel, drehte rastlos die langen Zeiger der Uhr, alle Viertelstunden schlug der Hammer hell an die Glocke – und die Kinder spielten weiter.

      Die Kinder, das Pendel, die Gräber – es tritt mir ein Bild vor die Seele: Was sind die Völker der Erde seit Anbeginn anderes als ein gewaltiges Pendel! In großen Schwingungen werden sie von einer unsichtbaren Macht hin- und hergetrieben, steigen empor, sinken zurück, steigen wieder empor,

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