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Die Vielfalt von Wahrnehmungen und Beschreibungen und die daraus entstehende Multiperspektivität macht sie als Resonanzraum für Fallbesprechungen besonders gut geeignet. Für die Bearbeitung komplexer Probleme und Fragestellungen braucht es eine angemessene Komplexität des beratenden Systems. In einer Gruppe gibt es zudem bei jeder Interaktion immer die Position einer Dritten, die diese Interaktion beobachten und kommentieren kann, um so die Wahrscheinlichkeit von Reflexivität zu erhöhen. Doch so oder so, in der Dyade wie in der Gruppe kann eine Fallbesprechung nur dann professionell gelingen, wenn der Kontext, in dem sie stattfindet, mitgedacht wird. D. h., eine Fallbesprechung muss beides in den Blick nehmen: den erzählten Fall und die Situation bzw. die Beziehungskonstellation, in der die Erzählung stattfindet. Die Tradition der Fallbesprechung, in die wir uns stellen, versteht dies nicht als notwendiges Übel. Gerade das Auftauchen bzw. die Spiegelung der Falldynamik in der fallbesprechenden Gruppe kann zu einem vertieften Verstehen führen. Wie dies in einer Gruppe geschieht, gesteuert und gestaltet werden kann, davon handelt dieses Buch.

       1.3Zum Anliegen dieses Buches

      Fallbesprechungen finden in unterschiedlichen Kontexten und Formen statt: als kollegiale Beratung, als Gruppensupervision, als Praxisanleitung für neue oder auszubildende Mitarbeiter, als Fallkonsultation im Gesundheitsbereich etc. In unserem Buch schreiben wir über Fallbesprechungen aus unserer Perspektive als Supervisoren, die für »Beziehungsarbeiter« in den verschiedenen Feldern helfender und erziehender Berufe, für Führungskräfte, Projektleiter, Personalverantwortliche etc. und im Zusammenhang mit der Aus- und Fortbildung von Beraterinnen, Gruppendynamikern und Supervisorinnen über lange Jahre Fallbesprechungen geleitet haben.

      Die Begriffe »Fallbesprechung« und »Fallsupervision« liegen eng beieinander. Ersterer betont eher die Feldkompetenz, letzterer die supervisorische Kompetenz für die Dynamik der Besprechungssituation selber. Wir verwenden die Begriffe weitgehend synonym, aber eben unter einer spezifischen Voraussetzung. Zentral für unser Verständnis von Fallbesprechungen in Gruppen ist, dass der Fall aus dem »Dort und Damals« im »Hier und Jetzt« der Gruppe besprochen wird und daher auf die Gruppe und den Fall geachtet werden muss. Wollen Fallbesprechungsgruppen beiden Perspektiven gerecht werden, benötigen sie nach unserer Einschätzung eine professionelle Leitung. Alles andere wäre eine Überforderung. Es geht uns im Folgenden darum, das Spezifische dieser Arbeitsform zu beschreiben.

      Wir haben vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen dieses Buch sowohl für Menschen geschrieben, die als Mitglieder an solchen Gruppen teilnehmen, wie für diejenigen, die Fallbesprechungen leiten oder die dies erlernen wollen, also für Supervisorinnen, für Coachs und für erfahrene Fachkräfte, die z. B. als Praxisanleiterinnen Fallbesprechungen durchführen. Das Verständnis für Leitungsaufgaben und -funktionen ist für alle wichtig, Mitglieder wie Leitung.

      Es ist uns ein besonderes Anliegen, eng an der Praxis entlang zu schreiben. Wir wollen beschreiben, was in Fallbesprechungen geschieht – und nicht in erster Linie das, was dort geschehen sollte. Unser Ausgangspunkt ist kein normatives Modell, sondern – wie bei einer guten Fallbesprechung auch – die erlebte Praxis. An konkreten Beispielen soll erläutert werden, wie wir Fallarbeit verstehen und wie man sie gestalten kann. Neben vielen kleineren Fallvignetten im gesamten Text präsentiert daher Kapitel 7 eine Fallbesprechung in einem Team, die mit Tonband aufgenommen und transkribiert wurde. Die Interpretation dieses Materials macht deutlich, wie komplex bei näherem Hinsehen das Geschehen sein kann. Unser Text versucht, Schritt für Schritt auf diese Vielschichtigkeit hinzuführen. Eng an der Praxis entlang zu schreiben ist durchaus konzeptionell voraussetzungsvoll, man braucht ein Konzept für Fallbesprechungsarbeit, um diese Praxis überhaupt untersuchen und beschreiben zu können. In unserem Fall ist dies die Triade von Gruppendynamik, systemischen Ansätzen und qualitativer Sozialforschung.

      Das Buch ist in einer Form aufgebaut, die es sinnvoll macht, von vorne nach hinten lesen. Wir beginnen mit den historischen und konzeptionellen Wurzeln von Fallbesprechungen und lassen Überlegungen zur Struktur der Beratungssituation folgen, um uns dann den praktischen Erfordernissen und Phänomenen zuzuwenden. Wen einzelne Themen und Fragen interessieren, der schaue bitte in das ausführliche Inhaltsverzeichnis, das dafür die Stichworte bereitstellt.

      Zentral für Fallbesprechungen ist die Entwicklung einer forschenden Haltung dem Fall gegenüber; Fallbesprechungen leben von der Neugierde und der Entdeckungslust der Teilnehmenden und ihrer Bereitschaft, sich selber als Teil des Untersuchungsgegenstandes zu verstehen. Eine gute Fallbearbeitung, bei der ein neues, überraschendes Bild der Situation und der eigenen Handlungsmöglichkeiten entsteht, kann dann wie ein kleines Kunstwerk sein, das man beglückt mit in die Praxis hinübernimmt. Fallbesprechungen sind selten langweilig, wenn sich Teilnehmer und Leiter auf eine Forschungsexpedition einlassen, bei der sie einen neuen Kosmos sozialer Realität kennen- und verstehen lernen. Gleichzeitig geht es darum, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass alle Ergebnisse von Fallbesprechungen vorläufig sind. Es bleibt der Autonomie der Praxis vorbehalten – Klienten wie ihren Helfern, Kunden wie ihren Beraterinnen –, über das Gelingen einer Fallbesprechung zu entscheiden.

      Wir danken unseren Kolleginnen Cornelia Edding, Irmengard Hegnauer Schattenhofer und Tomke König für die Kommentare und die fachlichen Diskussionen. Ein Dank gilt auch unseren Erstlesern Ruth Back und Jörg Zimmermann, deren Ideen und Kommentare zu mehr Übersichtlichkeit und Verständlichkeit beigetragen haben.

       Oliver König & Karl Schattenhofer Köln/München, im Juni 2016/März 2021

       2Historische Quellen und konzeptionelle Hintergründe

       2.1Psychoanalyse und Balint-Gruppen

      In Adrian Gärtners historischer Darstellung zur Gruppensupervision (1999, S. 21 ff.) wird eine Arbeit von Sigmund Freud, dem Gründungsvater der Psychoanalyse, als eine Vorform der Fallbesprechung aufgeführt. In der Analyse des kleinen Hans leitet Freud dessen Vater, einen ärztlichen Kollegen, bei der Therapie der Ängste seines Sohnes an. Er lässt sich vom Vater Verhalten und Reaktionen des Sohnes schildern und gibt ihm dann Hinweise für den weiteren Umgang mit dem Sohn. Sicherlich könnte man dies auch als eine frühe Form der Familientherapie mit Vater und Sohn verstehen. Doch »diese merkwürdige Konstellation« gewinnt ihre Bedeutung dadurch,

      »dass Freud die therapeutische Zweipersonenbeziehung um ein Verfahren der indirekten Analyse erweitert hat, das dem Modell der Supervisionsbeziehung bereits weitgehend entspricht« (ebd., S. 21).

      In dieser Therapie zu dritt bildet sich die Grundkonstellation einer Fallbesprechung ab, auch wenn es nicht so genannt wird: das auf professionelles Handeln bezogene Reden über einen abwesenden Dritten sowie über die Arbeitsbeziehung des einen Gesprächspartners mit diesem Dritten.

      Im Zuge der Formalisierung der Ausbildung zur Psychoanalytikerin in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts entsteht daraus die »Kontrollanalyse« mit dem Ziel, die Ausbildungskandidaten in die »richtige« Form der Analyse einzuführen. In ihr müssen angehende Analytikerinnen ihre eigene Arbeit mit einem Patienten einem erfahrenen Kontrollanalytiker vorstellen und sich von ihm beraten und eben auch kontrollieren lassen.

      Auch alle weiteren psychotherapeutischen Schulen machten Gruppensupervision, Praxisanleitung und Fallbesprechungen verfahrensübergreifend zum festen Bestandteil ihrer therapeutischen wie beraterischen Aus- und Weiterbildungen. Dort lernen angehende Therapeuten und Beraterinnen, das jeweilige Therapie- oder Beratungskonzept auf den besonderen Einzelfall anzuwenden. Dies geschieht unter der Anleitung von erfahrenen und dazu legitimierten Kolleginnen, die

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