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Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury. Else Ury
Читать онлайн.Название Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury
Год выпуска 0
isbn 9788027238576
Автор произведения Else Ury
Издательство Bookwire
Hast du nicht gesehen, kletterte Annemarie auf das Fensterbrett – hurra – ein kühner Sprung, und sie stand unten in dem taufeuchten Garten.
Die Kleine fröstelte in ihrem offenen Kleide, denn die Sonne erhob sich eben erst verschlafen aus ihren Wolkenbetten. Und der frühe neblige Morgen ist ebenso kalt an der See wie der Abend. Auch das Barfußlaufen erschien ihr ein nur mäßiges Vergnügen in dem naßkalten Sande. Recht gern hätte Annemarie jetzt ihre Schuhe und Strümpfe angehabt. Aber zurück mochte sie nicht noch einmal – ach was – sagte Vater nicht immer. Bewegung ist gut, wenn man friert?
Das Barfüßchen setzte sich in Trab. Es jagte einige Male die Gartenterrassen hin und her und weckte die tauschlummernden Rosen, die kleinen, im Seegras wohnenden Insekten und all die Vöglein in den gelben Ginsterbüschen aus ihrer Morgenruhe. Die Rosen begannen leis zu duften, die Insekten umherzukrabbeln, und die Vöglein ihr Morgenlied zu zwitschern.
Ob sie nun schnell zu Mutti herumsprang? Aber am Ende war Mutti ärgerlich, daß sie mit offenem Kleid über die Straße lief? Vielleicht wollte Mutti auch noch schlafen, besser war schon, sie wartete noch ein bißchen. Denn die Straße und der dunstige Strand, auf den man hinabblicken konnte, lag noch wie ausgestorben da. Ganz Wittdün schlief noch.
Ganz Wittdün – ei, doch nicht! Als Annemarie jetzt zu dem Krokettplatz kam, der es ihr schon gestern angetan hatte und die bunten Holzkugeln nach allen Richtungen hin auseinander zu jagen begann, hob sich plötzlich aus den Gemüsebeeten hinter dem Hause ein merkwürdiger Kopf.
Braun und verschrumpelt war er wie eine vertrocknete Birne. Kein Haar war auf ihm zu sehen, eine seltsame schwarze Haube mit glänzendem Zierat ging fast bis in die Stirn hinein.
Annemarie stand und starrte die Erscheinung mit offenem Munde an. Ihre erste Empfindung war – fortzulaufen. Alle Märchen, die sie je gelesen von Frau Holle, von der Hexe aus Hänsel und Gretel, von der bösen Fee in Dornröschen, und von Zwerg Nase, sie wurden plötzlich beim Anblick der Alten in der Kleinen lebendig. Aber weglaufen – nein! Doktors Nesthäkchen war nicht feige; mit zehn Jahren glaubt man nicht mehr an Hexen und böse Feen. Außerdem pflegten letztere wohl auch kaum Tomatenpflanzen auszuschneiden, wie es die Alte dort gerade tat.
Diese aber war nicht weniger verwundert über den Anblick des kleinen barfüßigen Mädchens als Annemarie über den ihren.
»Nanu, wo kummst du denn her?« fragte sie mit einem Munde, in dem es keinen einzigen Zahn mehr gab. Unwillkürlich begann die Kleine wieder an ihre Hexenmärchen zu glauben.
»Dort aus Villa Daheim«, gab sie so keck wie möglich zur Antwort, trotzdem ihr Herz nichts weniger als keck pochte.
»Aus der Villa – ih, da schläft doch noch allens«, verwunderte sich die verschrumpelte Alte. Das klang eigentlich ganz menschlich.
»Ja, ich bin ausgekniffen – durch das Fenster – – –«
»Kind – Kind – du kannst dich ja up ’n Dot verkühlen, du bist gewiß die lütte Deern, die gestern erwartet wurde?« Das kam so freundlich heraus, daß Annemarie gar nicht mehr verstand, daß sie sich vor der alten Frau zuerst gefürchtet hatte.
»Wer sind Sie denn?« fragte sie zutraulich.
»Ick bün jo oll Modder Antje, mich kennt hier jedes Gör up (auf) Wittdün, die einheim’schen wie die fremden. Ick hab’ schon die Modder selig von uns’ Fru Kaplan up min Armen tragen. Dann hab ick min Ollschen Heirat, und als dat Unglück kam bei de Fru Kaptän, dat ihr smuckes blondes Haar in einer Nacht sneeweiß makt (gemacht) hat, da sünd wir allebeid’, min Ollscher und ick, denn allwedder zu ihr gangen. Will’s uns’ Herrgott bet tau (bis zu) unserm seligen End’.« Mutter Antje gab sich alle Mühe, statt ihres friesischen Plattdeutschs möglichst hochdeutsch zu sprechen, daß die Kleine sie verstand.
»Welches Unglück?« Annemarie spitzte beide Ohren. Nun sollte sie es erfahren, warum die junge Frau Kapitän schneeweißes Haar wie die Großmama hatte.
»Nee, min Deern, nee! Du verkühlst dich hier buken (draußen) bei die feuchten Morgennebels. Die sünd nix nich für so ’ne lütte Stadtdeerns. Und nich mal Schuhe! Kumm, Kind, kumm mit ins Hus (Haus), dat du erst ’n Schluck Warmes in ’n Leib kriegst.« Mutter Antje raffte ihre Gartengerätschaften zusammen.
»Das Haus ist ja verschlossen – können Sie denn auch durchs Fenster reinklettern?« fragte Annemarie zweifelnd, auf die schwerfällig sich bewegende Alte blickend.
»Nee, min Deern, dazu sünd min Knochens all zu steif. Ick mein’ nich die Villa, nee, unser lütt Hus (kleines Haus), dat uns die Fru Kaptän hier im Garten hat bauen laten (lassen).«
Richtig – ganz hinten am Ende der ausgedehnten Gartenanlagen stand ein sauberes Friesenhäuschen mit niedrigen Mauern und hohem Dach. Das hatte Annemarie noch gar nicht bemerkt.
Ob sie’s wagen sollte, mitzugehen? Die alte Frau in »Zwerg Nase« hatte den kleinen Jakob auch in ihr Haus gelockt und ihn dann in ein Meerschweinchen verwandelt. Aber Mutter Antje hatte so gute blaue Vergißmeinnichtaugen, nein, es war ja grützdämlich von ihr, sich zu fürchten.
Beherzt stapfte das barfüßige kleine Mädel an der Seite der alten Frau dem netten Häuschen zu. Wie fein Mutter Antje angezogen war! Einen faltigen, schwarzen Rock trug sie, dazu eine bunte Blümchentaille und die große schneeweiße Schürze sah trotz der Gartenarbeit so frisch aus, als wäre sie erst eben aus dem Schrank genommen.
»Sind Sie vielleicht eine Spreewälderin?« erkundigte sich die kleine Berlinerin, welche diese den Babywagen im Tiergarten schiebenden und Bauerntracht tragenden Kindermädchen gut kannte.
»Nee, ick bün Friesin – so, min lütt Deern, nu tritt in und willkummen bei oll Modder Antje«, treuherzig reichte sie der Kleinen ihre schwielige Hand.
Ach, war das schön bei Mutter Antje! Das blitzsaubere Zimmer hatte Wände aus vielen bunten Kacheln, die sich zu einem Bilde zusammensetzten, das ein Schiff auf hohem Meer darstellte. Auch sonst hingen viele Schiffsbilder an den Wänden. Nein, und wie drollig – die Betten waren ja in die Wand hineingebaut. Eine schöne dunkle Holztäfelung ging ringsherum, und ein sauberer großblumiger Vorhang verbarg sie. Oben drüber aber waren lauter blanke Zinnkeller aufgestellt.
»So, min lütt Deern, da hast mal erst ein Paar warme Strümp«, die Alte nahm aus der schön geschnitzten Truhe dicke selbstgestrickte Wollstrümpfe in himmelblauer Farbe. Das waren ihre Sonntagsstrümpfe.
Annemarie lachte hellauf. »Da kann ich ja mit beiden Füßen in einen rein.«
»Ja, die Beinken sünd ’n büschen lütt für die Strümp, aber schadet nix, min Deern, wärmen dun se doch. Nu man fixing noch ’n Schluck Warmes in’n Leib.« Diesmal ging Mutter Antje an die Kachelwand – herrjeh – die ließ sich öffnen, das war ja ein richtiger Schrank, der in die Wand eingelassen war.
»Oll Modder Antje hat wat für dat lütte Süßsnuteken«, sie goß Milch in die kleine Kasserolle und trug sie in die Küche nebenan.
Annemarie machte ein wenig erbautes Gesicht. Milch mußte sie drüben in der Villa gerade genug trinken. Aber da kam Mutter Antje schon zurück, in den schrumpligen Händen trug sie eine große alte Bauerntasse mit Myrtenzweigen und Goldschrift.
»Dat is min Bruttaß’, die is all öwer föfting Johr (fünfzig Jahr) alt«, sie stellte die schöne Tasse vor ihren kleinen Gast.
Aber zu Annemaries Schande muß es erzählt werden, daß sie unbedingt mehr Interesse für den verlockenden Inhalt als für die Brauttasse von Mutter Antje hatte.
Hm – Schokolade! Naschmäulchen ließ es sich schmecken.
»Da, min Deern, da hast ok ’n Friesenkuchen tau (zu), die kann keins so backen wie oll Modder Antje«, die gute Alte sah mit Freuden, wie es ihrem kleinen Besuch mundete.
War es hier nicht wirklich wie im Märchen? Dort in der Ecke stand ja auch noch ein Spinnrad – ganz wie in dem Dornröschenturm.
»Wo