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ist es doch eigentlich unfreundlich von uns, wenn wir ihr nicht den Gefallen tun. Ich könnte ja vielleicht erst mal acht Tage hier bei dir wohnen – dann kann ich ja immer noch lange genug ins Kinderheim,« setzte sie schnell hinzu, als sie sah, daß die Mutter den Kopf schüttelte.

      »Nein, Lotte, es ist in acht Tagen genau dasselbe wie heute. Grade was einem schwer wird, soll man gleich tun. Wasch’ dir noch mal die Hände, Kind, und laß dir die Haare überbürsten.« Annemarie wußte, daß gegen diesen bestimmten Ton Muttis alles Schmeicheln und Bitten nichts fruchtete. Schmollend begab sie sich an den Waschtisch.

      Die erfahrene Mutter aber dachte: »In acht Tagen ist es noch zehnmal schlimmer. Dann hat sich das Kind gemeinsam mit mir hier eingelebt. Heute ist ihr sowieso noch alles neu und fremd.«

      Die Hände waren gewaschen, das Blondhaar gebürstet, und der schwarze Lackhut wieder aufgestülpt. Noch einen wehmütigen Abschiedsblick warf Annemarie in die Ecke, wo so gut noch ein zweites Bett hätte stehen können. Dann ging es zum Kinderheim.

      Dasselbe lag nur drei Minuten entfernt, ebenfalls am Strande. Doch wenigstens ein Trost. Wenn es ihr nicht in der Kinderpension gefiel, dann rückte sie einfach aus zu Mutti – dazu war Doktors Nesthäkchen ganz fest entschlossen.

      »Hoffentlich springen wir ihnen nicht in die Mittagssuppe«, scherzte die Mutter, denn von der Kapelle schlug es grade zwölf Uhr.

      Annemarie verzog den Mund zu einem schmerzlichen Lächeln, sie war zu betrübt für Scherze.

      Nun standen sie vor dem zwischen malerischen Dünen gelegenen Hause mit dem lustigen roten Ziegeldach. Es hatte viele blanke Fenster, Balkone und Erker. Vor jedem Fenster war ein grüner Kasten mit bunten rankenden Winden angebracht, das gab dem Hause etwas ungemein Freundliches und Anheimelndes. Über dem Eingang blitzte in der Mittagssonne wie lauter Gold »Villa Daheim«.

      Das kleine Mädchen, das mit großen Augen seine neue Heimat in Augenschein nahm, ward eigentümlich durch diesen Namen berührt. Villa Daheim – es wollte sich ja hier gar nicht daheim fühlen. Nein, es wollte nicht!

      »Ist es nicht hübsch hier, Lotte?« die Mutter sah mit frohen Augen um sich. Der große sich in Terrassen die Sanddünen heraufziehende Garten mit seiner leuchtenden Rosenpracht war so recht ein Tummelplatz für fröhliche Kinder. Eine ausgedehnte Wiese mit Turngeräten, die ein Schild »Luftbad« trug. Ein großer Krokettplatz, auf dem Annemarie am liebsten sogleich eine Kugel durch den Reifen geschlagen hätte. Ein Ringspiel zum Werfen und – Hurra – auch eine Schaukel!

      Mit einem Satz war der Wildfang drin und flog jauchzend durch die Luft. Annemarie hatte ganz vergessen, daß es ihr ja hier nicht gefallen durfte.

      Mutter hielt die Schaukel an. »Laß das lieber heute, Lotte, du bist gestern auf dem Schiff genug geschaukelt. Am Ende könntest du wieder seekrank werden.«

      An der sonnigen Südterrasse vorbei mit den Liegestühlen betraten sie das Haus. Vergeblich schaute Annemarie nach Kindern aus. Es war keins zu erblicken.

      Die Mutter klingelte, während Doktors sonst so keckes Nesthäkchen plötzlich sein Herz bis in den Hals hinein Klopfen fühlte. Das kam sicher bloß von dem dummen Schaukeln. Denn Angst hatte sie doch kein bißchen – ih, woher denn!

      8. Kapitel

       Das Kinderheim am Nordseestrand

       Inhaltsverzeichnis

      Ein nettes Hausmädchen mit weißem Hamburger Häubchen und blütensauberem Latzschürzchen öffnete. Mit freundlichem Gruß führte sie durch eine blumengeschmückte Diele in den Empfangsraum. Dieser war ein gemütliches Wohnzimmer, in dem ein großes Ölgemälde, einen blonden Schiffskapitän darstellend, den Platz über dem Sofa einnahm. Darunter hing das Bild eines entzückenden Knaben. See-und Schiffsbilder schmückten die gegenüberliegende Wand. Merkwürdige Dinge aus fremden Ländern standen auf Tischchen und Paneelbrettern umher. Auch hier ein Blumentisch in der Fensterecke mit blühenden Gewächsen. Alles blitzte vor Sauberkeit.

      Ehe Annemarie ihre neugierigen Augen noch allenthalben hatte herumspazieren lassen können, wurde die zu einem andern Zimmer führende Tür geöffnet, und eine noch jugendliche Dame in Schwarz trat herein. Es war Frau Kapitän Clarsen, Annemaries Pensionsmutter. Mit herzgewinnender Freundlichkeit ging sie auf ihre Gäste zu.

      »Das freut mich, gnädige Frau, daß Sie mir selbst Ihr Töchterchen bringen. Also dies ist unsere neue kleine Annemarie – guten Tag, mein Herzchen. Sei herzlich willkommen bei uns auf Wittdün, wir wollen dich hier sehr lieb haben.« Damit küßte sie das fremde kleine Mädchen auf die Stirn.

      Die tief knicksende Annemarie machte ein ganz verdutztes Gesicht. Auf solch einen herzlichen Empfang war sie nicht vorbereitet gewesen. Sie hatte sich die Frau Kapitän wie eine strenge Lehrerin vorgestellt, und nun war die so liebevoll zu ihr wie die Großmama oder wie eine Tante. Aber sie wollte sich hier ja gar nicht lieb haben lassen – sie wollte doch wieder mit zurück nach Berlin.

      Indessen besprachen die beiden Damen alles Notwendige. Annemarie hatte Zeit, ihre neue Pensionsmutter eingehender zu betrachten.

      Was war denn eigentlich nur so merkwürdig an der Dame? Immer wieder mußte die Kleine das lieblich zarte Gesicht der Frau Kapitän, das so jung wie das von Mutti erschien, studieren.

      »Ich hab’s« – laut entfuhr es plötzlich dem kleinen Mädchen, das gewöhnt war, alles herauszusprudeln, was es auf dem Herzen hatte. Dann aber biß sich Annemarie erschreckt auf die Lippen.

      »Was hast du, Herzchen?« freundlich wandte sich Frau Kapitän ihr zu. »Na, magst du es mir nicht sagen? Wir wollen doch beide gute Freunde werden, da mußt du auch Vertrauen zu mir haben.«

      Hilflos stand Doktors Nesthäkchen da. Es zupfte an seinem weißgepunkteten Musselinkleid herum und steckte schließlich in grenzenloser Verlegenheit den Finger in den Mund.

      »Ei, da will ich nicht drängen, vielleicht erzählst du’s mir mal später von selbst«, Frau Kapitän hatte Mitleid mit der Schüchternheit der kleinen Fremden. Sie setzte das Gespräch mit der Mutter fort.

      Frau Doktor Braun jedoch war ärgerlich auf ihre Lotte. Tat das dumme Mädel nicht, als ob es nicht bis drei zählen konnte? And war doch sonst solch Plappermäulchen, das gar keine Schüchternheit kannte. Warum antwortete sie denn nicht, wie sich’s gehörte, auf Frau Clarsens freundliche Frage?

      Hätte Frau Doktor Braun jedoch gewußt, was Annemarie mit ihrem »ich hab’s« gemeint hatte, dann hätte sie wohl ihre Befangenheit verstanden. Die Kleine hatte nämlich gerade in dem Augenblick herausgefunden, daß ihre neue Pensionsmutter ja schneeweißes Haar hatte, genau wie die Großmama. Das war es, was ihr so merkwürdig zu dem noch jungen Gesicht erschienen war. Und dies konnte sie doch unmöglich sagen.

      Die beiden Damen hatten indessen alles miteinander verabredet. Annemarie sollte sich so viel wie möglich in der frischen Luft aufhalten. Mit den Seebädern wollte man noch etwas warten, bis das Wasser sich mehr erwärmt hatte. Inzwischen sollte sie Sonnenbäder nehmen und auch eine Liegestuhlkur durchmachen. Im übrigen viel frische Milch – Annemarie schüttelte sich heimlich – Milch trank sie höchst ungern. Der Unterricht sollte bis zum Ablauf der großen Ferien ausgesetzt werden, um dem Kind erst Zeit zur Erholung zu lassen.

      »Ja Kuchen« – dachte Annemarie nicht sehr respektvoll – »nach den großen Ferien bin ich bestimmt wieder in Berlin und gehe mit Margot Thielen zusammen in die Schule.«

      Die Mutter erhob sich mit warmen Dankesworten. Die Dame, der sie ihr Kind anvertrauen wollte, hatte den denkbar günstigsten Eindruck auf sie gemacht.

      »Ich darf Ihnen vielleicht noch das Haus mit all seinen Einrichtungen zeigen, gnädige Frau,« schlug Frau Kapitän liebenswürdig vor.

      Gern nahm die Mutter dies Anerbieten an. Fräulein Neugier schob sich hinter den Damen her – konnte man es ihr denn verdenken, daß sie sehen wollte, wo sie hinkam?

      »Mein

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