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      Mit schwimmenden Augen hatte Annemarie zurückgeblickt auf die buntwinkenden Tüchlein, auf das malerisch krause Giebelgewirr am Neckar. Mit schwimmenden Augen läßt sie heute noch einmal die letzten Monate im Fluge an ihrem inneren Auge vorübergleiten.

      Mai ist’s inzwischen geworden, lachender, sonniger, wonniger Mai. Mit tausend Blütenglocken läutet er in die Welt hinein. Der Kastanienbaum vor dem weitgeöffneten Fenster hat wie zu einem Fest all seine Kerzen aufgesteckt. Süße Duftwellen von Flieder versuchen vergeblich den scharfen Karbol-und Lysolgeruch der Krankensäle zu übertäuben. Matte Augen aus bleichen Gesichtern klammern sich an das bißchen Frühling, das der enge Fensterrahmen mitleidig einläßt.

      Am Fenster lehnt ein junges Menschenkind, blühend wie der Frühling da draußen. Aber nicht so strahlend und lachend trotz seiner zwanzig Jahre. Den goldblonden Kopf gegen das Fensterkreuz gepreßt, starrt es nachdenklich in die blauen Klematisglocken, die bis zum Fenster emporklettern. Draußen in den Gängen des Gartens werden Rollstühle gefahren, liegen in der Sonne abgezehrte Gestalten. Mühsam an Stöcken oder an dem Arm der Krankenschwester versuchen Genesende die ersten Schritte wieder in das neugeschenkte Leben hinein. Alles freut sich der Maiensonne. Selbst die Kranken fühlen sich in ihrem warmen Licht nicht ganz so elend mehr.

      »Fräulein Braun – der Verband drückt.« Von einem Bette erklang es stöhnend.

      Das junge Mädchen in der weißen Kittelschürze wandte sich der Rufenden zu. »Wir dürfen ihn nicht lockern, Frau Lehmann, sonst heilt das Bein schlecht zusammen. Sie müssen schon die Beschwerden mit Geduld ertragen.«

      Geduld – war es nicht lächerlich, daß sie, die den Begriff Geduld am wenigsten kannte, sie andern predigte? Doktors Nesthäkchen und Geduld! Das war wie Wasser und Feuer, wie Licht und Finsternis. Hatte sie nicht eben erst eine Probe davon geliefert? Ach, hätte sie nur soeben ein wenig mehr Geduld und Sanftmut bewiesen, dann brauchte sie jetzt nicht mit tränenbrennenden Augen in den lachenden Lenztag hineinzuschauen. Er war doch nun mal ihr Vorgesetzter, von dem sie eine gerechtfertigte Mißbilligung hinzunehmen hatte. Wie oft hatte sie sich das schon gesagt. Und trotzdem war ihr Hitzkopf wieder mal mit allen guten Vorsätzen durchgegangen. Wenn es nur irgendein beliebiger Fremder gewesen wäre, der Assistenzarzt, dann hätte eine Äußerung der Unzufriedenheit von ihm nicht so ihren Stolz verletzt. Aber von Rudolf Hartenstein ertrug sie eine Zurechtweisung nicht. Alles in ihr bäumte sich dagegen auf. Und wenn er zehnmal recht hatte. Wäre sie doch niemals darauf eingegangen, am Krankenhaus Westend praktisch zu arbeiten. Wäre sie doch lieber in Vaters Klinik gegangen. Vater hatte gewünscht, daß sie erst zum Winter Kolleg an der Universität hören, und während des kurzen Sommersemesters praktisch tätig sein sollte, trotzdem sie eigentlich noch zu jung dazu war.

      Als Rudolf Hartenstein ihr bei ihrer Heimkehr aus Tübingen den Vorschlag gemacht hatte, zu ihm als »Famulus« zu kommen, war Vater gleich dafür gewesen. Das städtische Krankenhaus hatte ein viel reichhaltigeres Material an Fällen als seine Privatklinik. Es war gut, wenn Annemarie beim praktischen Arbeiten möglichst viel zu sehen bekam. Seine Assistentin würde sie später werden, wenn sie schon ein gewisses Maß von Erfahrung gesammelt hatte. Und unter Rudolf Hartensteins Anleitung konnte sie etwas lernen, davon war Dr. Braun überzeugt. Er hielt viel von dem tüchtigen, jungen Kollegen.

      Ja, Annemarie lernte was. Dr. Hartenstein nahm sie stramm heran und ließ ihr nichts durchgehen. Anstatt dankbar dafür zu sein, da es doch zu ihrem Besten geschah, lehnte sie sich wie ein trotziges Kind dagegen auf. »Unzuverlässig und unbedacht« hatte er sie heute wieder genannt. Noch dazu vor der Oberschwester! Die Krankenberichte, die sie zu erledigen hatte, waren nicht fertig. Und als sie ihm beim Röntgen assistierte, hätte sie beim Haar eines der so kostbaren Rohre zu weich werden lassen. »Woran sie denn bloß in aller Welt zu denken habe?« hatte er sie ärgerlich angefahren.

      Das ließ sie sich nicht gefallen! Nachdem die Bestrahlung fertig war, hatte sie ohne ein Wort der Entschuldigung den Röntgensaal verlassen. Mochte er sehen, wo er jemand zum Assistieren herbekam.

      Mit einem zentnerschweren Seufzer begab sich Doktors Nesthäkchen in das kleine neben dem Frauensaal gelegene Zimmer und machte sich an die vernachlässigten Krankenberichte. Woran sie zu denken hatte? An das, woran er scheinbar überhaupt nicht mehr dachte. Wie ganz anders es im vorigen Sommer zwischen ihnen gewesen war. War das wirklich derselbe, der sie vorhin so heruntergemacht hatte, der damals in der Nebelhöhle so liebevolle Worte für sie gehabt? Jede Erinnerung daran schien bei ihm völlig ausgelöscht. Er hatte bei der Arbeit denselben freundlich sachlichen Ton ihr gegenüber wie gegen die Schwestern. An den wenigen freien Abenden, die ihm seine Tätigkeit gönnte, war er meistens mit seiner Schwester Ola zusammen, die seit Weihnachten in Berlin studierte. Sie wohnte bei einer bekannten Familie, hielt aber eifrig Umschau nach einer kleinen Wohnung für sich und den Bruder. Das war recht schwer. Denn die Wohnungsknappheit hatte sich in Berlin zu einer wahren Wohnungsnot gesteigert. Kamen Rudolf und Ola wirklich mal abends zu ihnen, dann gab es medizinische Fachgespräche mit dem Vater, oder es wurde Skat gespielt. Manchmal plauderte man auch von den gemeinsamen schönen Wochen in Blaubeuren. Von der Nebelhöhle sprachen weder Rudolf noch Annemarie.

      Ach, Doktors Nesthäkchen hätte gar zu gern gewußt, ob es ihm schwer wurde, ihrem Wunsch, Vergangenes vergangen und vergessen sein zu lassen, zu willfahren. Es sah nicht danach aus. Er schien sich ganz gut darein gefunden zu haben. Annemarie biß sich wütend auf die Lippen. Ein düsterer Tintenklecks zierte den Krankenbericht.

      »Fräulein Braun, Herr Doktor läßt bitten zur Visite.« Eine weiße Schwesternhaube erschien in der halbgeöffneten Tür und verschwand wieder.

      Annemarie warf die Feder hin, daß neben dem Klecks noch ein paar niedliche Spritzerchen prangten.

      Sollte sie seinem Wunsch nicht nachkommen? Sich mit Kopfschmerzen entschuldigen lassen? Nein, das sah feige aus. Dann bildete er sich noch womöglich ein, daß sie sich was aus seiner Unzufriedenheit machte. Pah – nicht soviel! Nesthäkchen schnippte gleichmütig mit den Fingern, während die Tränen, die ihr ärgerlicherweise schon wieder in die Augen schossen, vom Gegenteil erzählten.

      Der Assistenzarzt war bereits im Kindersaal, als Annemarie denselben betrat.

      »Tante, komm her – zu mir zuerst, Tante Annemarie – hast du auch an das Märchenbuch gedacht? – Tante, morgen darf ich vielleicht aufstehen, sagt Onkel Doktor –«, jubelnd wurde Annemarie von den kleinen Patienten empfangen. Die lustige Tante, die mit den kleinen Kranken scherzte und spielte, hatte sich im Sturm die Kinderherzen erobert.

      Heute lachte die Tante Annemarie nicht. Ernst trat sie an das Bett des kleinen Paul, über das Rudolf Hartenstein sich gerade untersuchend neigte.

      »Die Schwellung geht zurück – bitte, wenn sich’s davon überführen wollen, Fräulein Kollega.« Als ob nicht das geringste vorgefallen wäre, machte er sie auf Einzelheiten der verschiedenen Krankheiten aufmerksam. Von Bett zu Bett – kleine abgemagerte Ärmchen streckten sich Annemarie zärtlich entgegen.

      Da nahm die ernste Miene, die eigentlich gar nichts in Annemaries rosigem Gesicht zu suchen hatte, vor all der Freude, die ihr Erscheinen auslöste, Reißaus. Sie vermochte sich wieder mit Karlchen zu necken, dem Urselchen, das so arge Schmerzen hatte, gut zuzureden, bis es dem Onkel Doktor sein »Wehweh« zeigte, und an all den kleinen Freuden und großen Leiden so liebevollen Anteil zu nehmen wie sonst.

      »Tante Annemarie soll das Pflaster auflegen, Tante tut nicht weh –,« weinte das kleine Ding.

      »Tante Annemarie kann auch weh tun und findet halt nimmer das Pflaster für die Wunde.« Der junge Arzt sprach es leicht scherzend zu dem weinenden Kinde. Er tat, als bemerke er es nicht, daß seine junge Begleiterin blaß und rot wurde. Es war das erstemal seit ihrem Gespräch auf dem Ulmer Münster, daß er mit einem Wort daran rührte.

      Der Kindersaal war durchwandert. Weiter zur Frauenstation. Stumm schritten die beiden weißen Kittel nebeneinander her.

      »Es muß Ihnen doch Freude machen, daß Ihnen von unsern Mädle und Buben hier halt so viel Liebe entgegengebracht wird«, begann der Assistent, nachdem er sein schweigsames Fräulein Kollega ein paarmal von der Seite angesehen.

      Keine

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