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1. Parteiautonomie und faires Verfahren

      7.19

      Man wird – wie im Erkenntnisverfahren[34] – davon auszugehen haben, dass die Disposition des Gläubigers und des Schuldners über Anfang und Ende des Vollstreckungsverfahrens dem Schutzbereich verfassungsrechtlicher Handlungsfreiheit unterfällt (Art. 2 Abs. 1 GG). Der Gläubiger muss nicht vollstrecken und er muss eine begonnene Vollstreckung nicht fortführen (Rn. 6.6), der Schuldner kann freiwillig befriedigen, er kann – nicht muss – vollstreckungshemmende Anträge stellen. Eine Regelung ohne die Freiheit der Entscheidung über das „Ob“ des Verfahrens wäre verfassungswidrig.

      7.20

      Beide Parteien – Gläubiger wie Schuldner – schützt im Vollstreckungsverfahren wie im Erkenntnisverfahren die grundrechtliche Gewährleistung eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens. Das bedeutet, dass die Vollstreckungsorgane als Organe der Rechtspflege durch Aufklärung der Parteien (§ 139) und entsprechende Verfahrensgestaltung die Parteien vor dem deutlich erkennbaren Fehlgebrauch ihrer Freiheit schützen müssen[35], indem sie auf Möglichkeiten sachdienlicher Rechtswahrnehmung rechtzeitig hinweisen.

      Die Problematik des Richtervorbehalts (Art. 92 GG) im Vollstreckungsrecht ist an anderer Stelle abgehandelt (Rn. 8.32 m. Nw.; s.a. Rn. 7.30, 7.33).

      7.21

      Die Gläubigerdisposition über die Vollstreckungsart und den Vollstreckungsgegenstand (Rn. 6.14 ff.) kann dazu führen, dass der Gläubiger eine sehr belastende Vollstreckungsart wählt, z.B. Immobiliarvollstreckung statt Forderungspfändung, oder einen Vollstreckungsgegenstand besonderen Gewichts aussucht, z.B. das Eigenwohnheim des Schuldners und nicht das Mietshaus. Der Versuch, aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz der Verfassung das Gebot des schwächsten Eingriffs herzuleiten[36], ist indessen schon im Ansatz verfehlt. Er übersieht, dass der Schuldner stets den schwereren Eingriff verhindern kann, indem er im Wege der erfüllenden Selbstliquidation den geringeren Eingriff wählt. Falls er den Überblick verloren hat, hilft der Hinweis der Vollstreckungsorgane (§ 139) als Ausfluss der grundrechtlichen Gewährleistung eines fairen Verfahrens. Ein „gradus executionis“ (Rn. 6.14 ff.) ist folglich verfassungsrechtlich nicht geboten[37], es sei denn, der Schuldner hat keine Befriedigungsalternative, wie z.B. bei der Handlungs- und Unterlassungsvollstreckung durch Beugemittel (Rn. 7.7 ff., 7.9).

      7.22

      

      Umgekehrt ist allerdings die Gläubigerdisposition für die Vollstreckungsarten und die Vollstreckungsgegenstände nicht verfassungsmäßig garantiert. Es stünde dem Gesetzgeber frei, einen gradus executionis einzuführen: Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet nur die Freiheit des Gläubigers, über das „Ob“ der Vollstreckung zu entscheiden. Wie sich die Vollstreckung vollzieht, kann der Gesetzgeber gestaltend festlegen. Eine andere Frage ist, ob die Einführung einer Vollstreckungsreihenfolge rechtspolitisch wünschenswert erschiene; dies ist klar zu verneinen (hierzu Rn. 6.18).

3. Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes in der Vollstreckung

      7.23

      Die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines rechtsstaatlichen, fairen Verfahrens verlangt im Vollstreckungsverfahren wie im Erkenntnisverfahren[38] rechtzeitige Rechtsverwirklichung in „angemessener Frist“. Dabei sind die Schwierigkeit der Vollstreckung, das Verhalten des Gläubigers, die Verfahrensführung durch die Vollstreckungsorgane, die Grenzen des Vollstreckungszugriffs beim Schuldner (Rn. 7.2 ff.) und die Bedeutung der Rechtsverwirklichung für den Gläubiger zu berücksichtigen. Der Grundsatz der Vollstreckungsbeschleunigung ist also in seinem Kernbereich verfassungsfest; auch auf verfassungsrechtlicher Ebene führen indessen wie im einfachen Recht (Rn. 6.35) Schuldnerschutzrechte zu seiner Beschränkung, sodass nur in Extremfällen eine Verfassungsbeschwerde wegen Vollstreckungsverzögerung Erfolg haben dürfte (Art. 2 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG i.V.m. Rechtsstaatsprinzip).

      7.24

      Ob zum effektiven Rechtsschutz die Möglichkeit einer Naturalvollstreckung gehört (Rn. 6.45 ff.) oder ob es mit dem Grundsatz effektiven Rechtsschutzes vereinbar wäre, den Gläubiger verstärkt auf Schadensersatz und Geldvollstreckung zu verweisen, ist bisher kaum erörtert. Man wird allerdings bei aller gebotenen Vorsicht eine Ausgewogenheit von präventivem und repressivem Rechtsschutz als verfassungsrechtlich garantiert zu betrachten haben, wie auch die Garantie einstweiligen Rechtsschutzes durch das Rechtsschutzgrundrecht ganz h.M. entspricht[39]. Präventiver – d.h. schadens- und nachteilsvermeidender – Rechtsschutz setzt jedoch Naturalvollstreckungsmaßnahmen voraus. Ein Vollstreckungssystem, das diesen Anforderungen nicht gerecht wird, wäre also schwerlich verfassungskonform. Daraus folgt natürlich nicht die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Naturalvollstreckung jedweder Pflicht, aber doch das verfassungsrechtliche Gebot, im Einzelfall richtig abzuwägen und entsprechendes Vollstreckungsinstrumentarium grundsätzlich zur Verfügung zu halten.

      7.25

      Nach dem Grundsatz der Formalisierung der Vollstreckung (Rn. 6.53 ff.) ist den Vollstreckungsorganen eine materielle Würdigung des Titels grundsätzlich verwehrt: sie können weder seine inhaltliche Richtigkeit noch seine Vollstreckungswürdigkeit überprüfen. Der Grundsatz der Formalisierung folgt weithin aus der prozessualen Institution der Rechtskraft, die ihrerseits als Bestandteil eines effektiven rechtsstaatlichen Verfahrens verfassungsrechtlich gewährleistet ist[40]. Soweit Vollstreckungsorganen bei „rechtsmissbräuchlicher Vollstreckung“ (Rn. 6.57) oder „materiellrechtlicher Evidenzkontrolle“ (Rn. 6.59) eine Befugnis eingeräumt würde, über das „Ob“ des Titelvollzuges neu zu entscheiden, wäre die – Rechtssicherheit umfassende – Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzverfahrens verletzt, die hier schuldnerische Schutzpositionen überwiegt[41]. Die Position des Schuldners ist gewahrt, wenn er nach den Regeln eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens von den Vollstreckungsorganen auf mögliche Rechtsbehelfe gegen den Titel hingewiesen wird (§§ 767, 578 ff. etc.). Hingegen könnte der Formalisierungsgrundsatz beim „Wie“ der Vollstreckung Einschränkungen erleiden, die verfassungsrechtlich

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