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lassen. Das AG Bernau hat die Thematik mit einer aufwendig begründeten Richtervorlage (hierauf deutet bereits der Umfang des Beschlusses von 141 Seiten hin) wieder auf die Agenda des BVerfG gebracht.[259] Bereits 2002 hatte das AG Bernau den „Zweiten Cannabisbeschluss“ (in Form eines Nichtannahmebeschlusses) veranlasst.[260] Damals hatte das BVerfG angenommen, dass das Gericht „keine neuen Tatsachen“ dargelegt habe, „die geeignet seien, eine von der früheren Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichts abweichende Entscheidung zu ermöglichen“. Seitdem hat sich allerdings viel getan, sowohl in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht als auch aus empirischer Perspektive, sodass mit Spannung zu erwarten ist, ob das BVerfG die Richtervorlage zur Entscheidung annehmen, insbesondere die (diesseits geteilte) Einschätzung übernehmen wird, dass sich die Entscheidungsgrundlage (nicht nur aufgrund des Zeitablaufs per se, sondern auch im Hinblick auf neuere Erkenntnisse aus internationalen Studien zu Wirkungen und Gefährlichkeit von Cannabis[261]) derart verändert hat, dass eine neue Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des Verbots oder der Kriminalisierung des Erwerbs und Besitzes von weichen Drogen, vor allem von Cannabis, erforderlich erscheint.

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      Erklärter Zweck des BtMG ist es, die medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, daneben aber auch den Missbrauch von Betäubungsmitteln sowie das Entstehen oder Erhalten einer Betäubungsmittel-Abhängigkeit soweit wie möglich auszuschließen (§ 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG). Hinzu tritt der Wille, soziale bzw. gesellschaftspolitische Schäden zu verhindern, die finanzstarke kriminelle Vereinigungen hervorrufen.[262] Orientiert an diesen gesetzgeberischen Intentionen erfasst das BtMG nach h.M. dementsprechend mehrere Schutzgüter: Die Gesundheit des Einzelnen und diejenige der Bevölkerung im Ganzen (Volksgesundheit).[263]

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      Der BGH hat den Begriff der „Volksgesundheit“ dahingehend konkretisiert, dass deren Schutz Schäden vorbeugen soll, die sich für die Allgemeinheit aus dem verbreiteten Konsum aller „harter“ Drogen und den daraus resultierenden Gesundheitsschäden des Individuums ergeben.[264] Der Senat stellt damit klar, dass das Rechtsgut „Volksgesundheit“ jedenfalls nicht „nur“ die Summe der Gesundheit von Individuen darstellt, sondern ein normatives „Mehr“ enthält.[265] Jene „Schäden“ erläutert der BGH zumindest exemplarisch in einem Urteil vom 25. August 1992[266] etwas genauer, wenn von drogenbedingten Leistungsausfällen in Schule, Ausbildung und Beruf die Rede ist, die auch mit beträchtlichen Kosten und Mühen für Dritte verbunden sein sollen. Die nachfolgenden Urteile bzw. Beschlüsse, die sich mit dem Rechtsgut „Volksgesundheit“ befassen,[267] sind vom viel diskutierten „Cannabis-Beschluss“ des BVerfG geprägt, in denen sich der BGH im Wesentlichen den Ausführungen des BVerfG anschließt.

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      Das zweispurige Konzept der Rechtsprechung – Individual- und Universalrechtsgüterschutz – wird auch „zweispurig“ kritisiert:[271] Bei den Universalrechtsgütern der „Volksgesundheit“ bzw. „des nicht von Drogen beeinträchtigten, sozialen Zusammenlebens“ wird bereits deren Existenzberechtigung angezweifelt und diskutiert, ob sie einem (systemtranszendenten) Rechtsgutsbegriff überhaupt gerecht bzw. als Legitimationsbasis für die Strafbarkeitsvorverlagerung herangezogen werden können.[272]

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      So wird dem Rechtsgut der Volksgesundheit vorgeworfen, dass es keinen eigenständigen Gehalt habe.[273] Im Betäubungsmittelstrafrecht werde die Summe der einzelnen Individualrechtsgüter zu einem Kollektivrechtsgut zusammengefasst[274] und sei daher als „Scheinrechtsgut zu entlarven“. Dies stelle eine unzulässige „Hypostasierung“[275] dar, da man ein konkretes Gut allgemein gehaltenen, undurchsichtigen Universalrechtsgütern unterstelle, obwohl der Tatbestand ihn als real existierender Bezugspunkt – „klassenlogisch näher“[276] – benennen könnte. Ein eingetretener Schaden für die Volksgesundheit sei nämlich niemals feststellbar, geschweige denn im Einzelfall messbar. Anders bei den Rechtsgütern Leben und körperliche Unversehrtheit: Als solches unbestritten anerkannt,[277] geht es hier nur um die Frage, ob das BtMG die körperliche Unversehrtheit des Einzelnen schützen darf, oder – zumindest partiell – nicht als „aufgedrängter, staatlicher Schutz vor Selbstschädigung“ angesehen werden müsste (meist unter dem Stichwort des illegitimen Paternalismus diskutiert, was – ähnlich wie im Rahmen der Rechtsgutsdefinition selbst – wiederum zur Folge hat, dass man in den Wirren einer Begriffsbestimmung die eigentliche Frage aus dem Blick verliert).

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      „Transferiert“ man die Rechtsgutsdoktrin und die kritischen Einwände auf das verfassungsrechtliche Rechtmäßigkeitsschema, wird deutlich, dass sie unterschiedliche Ebenen der Verhältnismäßigkeitsprüfung betreffen, was zur Folge hat, dass die innerhalb der Rechtsgutsdoktrin konzentrierte Kritik „zerstreut“ wird und ihre Wucht verliert.

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      Zunächst lassen sich – ausgehend von einem großzügigen Maßstab – alle Rechtsgüter als „Gemeinschaftsbelange“ verstehen, die sich unter den verfassungsrechtlichen Begriff des legitimen Zwecks fassen. Auf dieser Ebene hat die Verfassungsrechtsdogmatik kaum einschränkende Wirkung, weil die grundsätzliche Schutzbedürftigkeit von Gemeinschaftsbelangen kaum in Frage gestellt wird.

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      Die objektivrechtliche Funktion eines Grundrechts (also die Funktion als „Schutzbelang“) kommt jedenfalls dann nicht zum Tragen, wo der Wesensgehalt eines grundrechtlichen Verfassungsguts, auf das der Grundrechtsberechtigte verzichten möchte, nicht berührt wird.[278] Bei den meisten Drogen, deren einmaliger Konsum nicht lebensgefährlich ist (mangels Toxizität, vgl. bereits Rn. 35), kann damit aus dem verfassungsrechtlichen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verankerten objektiven Lebensschutz keine grundrechtliche Schutzpflicht hergeleitet werden.[279] Hinsichtlich der körperlichen Unversehrtheit dagegen könnte man – eine niedrige Schwelle des Wesensgehalts zugrunde legend – davon ausgehen, dass das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen zurücktritt, wenn die körperliche Unversehrtheit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf Dauer beeinträchtigt werden könnte.[280] Dies ist auch der Grund, warum im Rahmen der kriminalpolitischen Erwägungen derart intensiv über die Auswirkungen des Cannabiskonsums und zur Wahrscheinlichkeit dauernder

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