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Angst im Systemwechsel - Die Psychologie der Coronazeit. Jürgen Wächter
Читать онлайн.Название Angst im Systemwechsel - Die Psychologie der Coronazeit
Год выпуска 0
isbn 9783991311676
Автор произведения Jürgen Wächter
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
So wie vor Mäusen können wir lernen, vor allem Möglichen Angst zu bekommen, vor Spinnen, Ratten, Schlangen, Zahnärzten, Weihnachtsbäumen oder auch vor Müllcontainern oder Coronaviren. Ängste, die sich auf spezielle Objekte beziehen, nennen wir Phobien. Alle Dinge sind möglich, angstbesetzt zu werden. Aber nicht nur Dinge, auch für alle denkbaren Situationen kann Angst gelernt werden, sowohl von anderen Menschen als auch durch eigenes Erleben.
Wird ein kleiner Junge von einem Pferd getreten, kann er lebenslang eine Abneigung gegen diese Tiere haben, vielleicht als Erwachsener sogar, ohne noch zu wissen, dass er einmal getreten wurde. Ein Pferdebild im Augenwinkel kann zum Trigger werden und aus ihm unerklärlichen Gründen taucht Angst auf. Ein heftiges Anschreien eines Kindes von einer blonden Frau kann dazu führen, dass der Erwachsene später nur auf brünette oder schwarzhaarige Frauen steht. Wird die Mutter bei Gewitter ängstlich, weil sie das an den Bombenhagel im Weltkrieg erinnerte, übernehmen Kinder das möglichweise und meiden Gewitter selber und geben das vielleicht sogar an ihre Kinder weiter, sodass ein Angstverhalten über Generationen fortgesetzt werden kann. Sagt der kriegsbeeinflusste Vater ständig, dass es nur zu Hause sicher ist und in der Welt draußen ungeahnte Gefahren lauern, bekommen wir vielleicht eine Agoraphobie, also eine Angst, uns allein zu weit vom eigenen Heim zu entfernen. Wir können dann z. B. nicht allein in den Urlaub fahren.
Die Zahl der Ängste, die wir erlernen können, ist somit unbegrenzt. Und jeder Mensch hat andere Ängste in unterschiedlicher Stärke. Was dem einen Angst macht, macht dem anderen keine. So genießt die eine Frau die weiten Blicke vom Aussichtsturm, während ihrer Wanderbegleiterin so ein Turm die Angst hochschnellen lässt. Darauf klettern? Niemals. So wartet sie derweil lieber unten.
Wirklich ganz frei von Ängsten sind wohl nur die allerwenigsten. Wir allein erfahren unterschiedlichste Prägungen in der Kindheit, erlernen Muster, wie wir handeln sollten, übernehmen Bewertungen von Situationen von anderen, machen Erfahrungen und verinnerlichen Ängste der Eltern.
Diese jeweiligen Ängste hindern uns, uns frei ausleben zu können. Sie schränken uns ein, indem wir manche Dinge nicht tun, weil da diese Angst ist. Wir vermeiden solche Situationen. Der schwedische Drehbuchautor Ingmar Bergmann sagte einmal: „Es gibt keine Grenzen, weder für Gedanken, noch für Gefühle. Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt.“
Was ist nun aber überhaupt Angst? Bisher haben wir noch keine Definition versucht. Und solche Definitionen sind in der Literatur auch sehr unterschiedlich. Es ist einfach ein Gefühl, sagen die einen, und die anderen definieren sie über die körperlichen Reaktionen heraus. Das ist beides nicht gerade die Spitze der Erkenntnis. Wir selbst wissen sofort, wenn wir Angst haben. Aber eine Definition fällt da schon schwer. Ist es einfach nur das Gefühl für Gefahrensituationen? Immerhin definiert der berühmte „Ofenstein“, das Lehrbuch der angehenden Psychotherapeuten: Angst ist ein zum Überleben wichtiger natürlicher Affekt der Wirbeltiere, der eintritt, wenn die körperliche, seelische oder moralische Unversehrtheit gefährdet ist.46 Aber die kleine Maus oder der Aussichtsturm sind ja keine wirklichen Gefahren für uns.
Wir gehen davon aus, dass Angst immer dann entsteht, wenn die betroffene Person subjektiv mit einem möglichen Verlust konfrontiert wird.47 Als vorläufige Definition können wir das erst mal für einen Augenblick so stehen lassen. Doch wessen können wir nun aber alles verlustig gehen?
Wir hatten schon gesehen, dass der eine vor Dingen Angst hat und die andere vor den gleichen Dingen nicht. Sogar auf den Leoparden reagierten die Steinzeitmenschen ja, wie wir gesehen haben, unterschiedlich. Angst ist also immer sehr persönlich, subjektiv. Es liegt an unserem eigenen Denken, ob wir in der kleinen Maus ein Kuscheltier oder eine fürchterliche Gefahr sehen. Somit entstehen Ängste durch unser Denken. Denken wir, dass wir alles beherrschen, kommt keine Angst auf. So geht der Dompteur frei und selbstbewusst in den Tigerkäfig und die Tiger führen ihre Zirkusdressur vor. Ginge dort jemand hinein, der sich den Tieren nicht gewachsen fühlt, bricht Angst aus. Und die würden die Tiger auch bemerken und losfauchen, wenn nicht Schlimmeres tun. Unser Denken ist das Entscheidende, ob wir Angst bekommen, zumindest, ob wir nach einem Schrecken in Angst bleiben oder wir uns wieder fangen und souverän reagieren.
In uns läuft jedes Mal eine Kette von Geschehnissen ab:
1. Wir geraten in eine bestimmte Situation.
Diese Situation muss nicht im Außen liegen. Es reicht, wenn wir uns etwas vorstellen, z. B. den Zahnarztbesuch nächste Woche. Dieser Gedanke reicht völlig aus, um Angst aufkommen zu lassen, denn unser Gehirn kann nicht unterscheiden, ob etwas gerade stattfindet oder wir nur gerade an eine Situation denken. Anders als die Tiere, können wir so vor Ereignissen der Vergangenheit oder der Zukunft Angst bekommen, Tiere leben dagegen immer im Hier und Jetzt.48 Die gedachten Situationen können wir immer schlimmer denken und so die Angst förmlich emporpushen. „Angst malt den Teufel an die Wand“, heißt es daher.
2. Wir bewerten die Situation danach, ob wir sie bewältigen können oder nicht. Und dies machen wir nicht unbedingt mit logischem Denken, sondern oft sehr subjektiv, emotional und intuitiv.
3. Das entsprechende Gefühl kommt auf. Angst (oder vielleicht Wut, Langeweile, Uninteressiertheit, Freude oder andere Empfindungen).
4. Wir reagieren auf Angst mit den drei Möglichkeiten der Flucht, des Angriffs oder der Erstarrung. Wenn wir es schon gelernt haben, können wir aber auch souverän bleiben und dann mit dem Großhirn entscheiden, wie es weitergeht.
5. Eine oder mehrere der drei Angstreaktionen können zu einem dauerhaften Verhalten werden.
Nun ist die Gefahr, heute einem Leoparden Aug in Aug gegenüberzustehen, recht unwahrscheinlich. Auch andere Raubtiere gibt es zumindest in Europa kaum noch. Und wenn, sind sie, vernunftmäßig gedacht, nicht gefährlich. Aber was ist schon vernünftig. Erscheint doch einmal ein Tier, dann springen die Ängste sofort wieder schreckhaft an. Als 2006 der Bär Bruno von Südtirol nach Bayern wanderte, kam es dort zu einer Panik und man ließ Bärenfänger aus Finnland kommen, weil Bruno ein paar Schafe und Hühner gegessen hatte. Bruno hatten keinem Menschen etwas getan, wieso auch, das hatte er ja bisher in Südtirol und Tirol auch nicht. Ministerpräsident Stoiber malte jedoch den Teufel an die Wand: „Stellen Sie sich mal vor, die Leute wären raus und wären jetzt dem Bären praktisch begegnet!“, sagte er, als Bruno ein Huhn auf einem Bauernhof verspeist hatte.49 Umweltminister Schnappauf machte Bruno ebenfalls zur Gefahr und so wurde das arme Tier schließlich an der Kümpflalm erschossen und steht heute ausgestopft in Schloss Nymphenburg. Er war ein Opfer der menschlichen Angst geworden.
Ein ähnliches Theater gibt es immer wieder bei der Einwanderung von Wölfen in die einzelnen deutschen Bundesländer. Seit Jahren sind sie in Sachsen heimisch, fügen sich in die ökologischen Kreisläufe ein und es gibt keine Probleme. Aber in jedem Bundesland, in das sie sich ausbreiten, springt die Angst an. 2008 zog ein einsames Tier durch das Münsterland und eine Bekannte traute sich nicht mehr aus dem Haus. Selbst ansonsten sich mutig gebende gestandene Männer forderten den Abschuss, der zum Glück nicht erfolgte, weil der Wolf zurück nach Niedersachsen marschierte. Heutzutage gibt es in den Kreisen Wolfsbeauftragte und es bedarf großer Informationsbemühungen, um die Harmlosigkeit dieser Tiere deutlich zu machen. Doch die Angst bleibt in vielen Menschen. Schließlich hat man als Kind diese Angst doch im Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf gelernt.50
Auch andere Naturgefahren bestehen heute kaum noch. Hohe Felsen sind meist durch Schilder, Schutzzäune und Sicherungsmaßnahmen ungefährlich geworden und bei Dunkelheit können wir einfach auf den Lichtschalter drücken. Da bräuchte es ja eigentlich die Angst gar nicht mehr, wäre sie lediglich eine Emotion für akute Lebensgefahr.