ТОП просматриваемых книг сайта:
...des Lied ich sing'. Gerd Pfeifer
Читать онлайн.Название ...des Lied ich sing'
Год выпуска 0
isbn 9783748598428
Автор произведения Gerd Pfeifer
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
"Warum verstecken Sie sich?", fragte sie, als er vor ihr stand. Wieder mit diesem Lächeln, das ihn auf einem anderen Gesicht wahrscheinlich verletzt hätte.
"Ich habe mich nicht versteckt", antwortete er fast trotzig. Das war nicht die Wahrheit. Sie wussten es beide. Er sah es in ihren Augen, und da musste er ebenfalls lachen. "Und ich will kein Buch kaufen", fügte er mutig hinzu.
Sie schaute ihn fragend an, aber so als wisse sie, was er als nächstes fragen und was sie darauf antworten würde. Sie war sich ihrer so sicher. Und er zögerte wie ein dummer Junge vor einer großen Entscheidung. Schließlich sprudelte es wie auswendig gelernt aus ihm heraus, und wahrscheinlich war ihr völlig klar, dass er den Satz tatsächlich geprobt hatte:
"Ich habe heute Nachmittag frei. Können wir zusammen eine Tasse Kaffee trinken? Oder etwas anderes? Was immer Sie möchten."
Das Gefühl, ein schüchterner Idiot zu sein, breitete sich unaufhaltsam in ihm aus. Und vertiefte sich noch, als er es bemerkte. Aber er würde es sich nie verzeihen können, wenn er die Frage nicht gestellt hätte. Erwartungsvoll schaute er sie mit großen Augen an. Bis er es merkte, weil sie ihn lächelnd und prüfend zugleich anblickte. Da ließ er gelangweilt seinen Blick über die Bücherregale gleiten. Dennoch sah er aus den Augenwinkeln, wie ihre Lider ein Mal, zwei Mal kurz flatterten. Er wollte nicht glauben, dass sie sich über ihn lustig machte. Schließlich nickte sie, und er hätte beinahe blöd und wie befreit gegrinst. Sie blickte auf die große Uhr über der Kasse und meinte freundlich und gar nicht überrascht:
"In zehn Minuten kann ich eine Pause machen. Wenn wir in der Nähe bleiben, wird es für eine Tasse Kaffee reichen."
"Ich warte draußen", erklärte er schnell und bevor sie ihn auffordern konnte, in einem der vielen Bücher zu blättern. Er wusste nicht, was er hätte antworten sollen, wenn ihn jemand gefragt hätte, was er da an den Regalen treibe.
Sie nickte, ahnte wohl seine Unsicherheit und wandte sich ab.
Pünktlich nach zehn Minuten kam sie aus dem Laden. Sie sah ihn sofort auf der gegenüberliegenden Straßenseite und kam mit ungewöhnlich ausgreifenden Schritten trotz ihres langen, engen Rocks auf ihn zu. Bevor er etwas sagen konnte, schlug sie ein kleines Stadtteil-Café gleich um die Ecke vor:
"Sie machen einen guten Kaffee, und wir müssen nicht lange laufen", begründete sie ihre Wahl.
Weiter als bis zu seiner Einladung hatte er sich das Treffen mit ihr nicht ausgemalt. Für den Fall einer abschlägigen Antwort hatte er sich einen ehrenvollen Abgang ausgedacht. Aber für mehr hatte seine Fantasie nicht ausgereicht. Nun musste er improvisieren. Und er hatte keine Ahnung, worüber er mit einer Buchhändlerin sprechen könnte. Wahrscheinlich war es aussichtslos, ihr mit irgendetwas imponieren zu wollen. Womit könnte er sich in ihren Augen schon hervortun? Seine Kellnerprobleme würden sie wohl kaum interessieren. Eigentlich zum ersten Mal wurde ihm so richtig bewusst, dass er ein Leben wie Millionen anderer führte. Nichts hob ihn aus der Masse heraus. Es gab nichts, worauf er besonders stolz hätte sein können, nichts, womit er ihr Interesse wecken konnte. Er überließ ihr die Gesprächsführung. Vielleicht zählte sie ja trotz ihrer intellektuellen Überlegenheit, die er ohne Zögern anerkannte, zu jenen Menschen, die gern über sich reden. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass dieser Versuchung kaum jemand widerstehen kann.
Im Preußischen Verein für Kraftsport, dem er hier in Berlin beigetreten war und in dessen Sporthalle er mit den aktiven Gewichthebern trainierte, um nicht aus der Übung zu kommen, gab es einen Arzt, einen richtigen Doktor, der tatsächlich nur ein Thema kannte: Doktor Maximilian Windhorst. Alle machten sich über ihn lustig – selbst in seiner Gegenwart, wenn er von seinen Erlebnissen mit Kranken, Kollegen und Schwestern, von seinen Absichten, Gefühlen und Erfahrungen berichtete. Den meist gutmütigen Spott nahm er gelassen hin. Nichts war ihm wichtiger als eine hingerissene Zuhörerschaft. Und nichts und niemand bedeutete ihm mehr als Doktor Windhorst.
Aber die Buchhändlerin, die seinen Namen und selbst seine Adresse durch die Buchbestellung kannte, die er selbst aber noch nicht nach ihrem Namen gefragt hatte, wich allen direkten oder versteckten Fragen nach ihrem Leben aus. Lieber ließ sie sich von ihm erzählen, wie er die Wirklichkeit erlebte.
"Was treiben Sie?", fragte sie ihn. "Beruflich, zum Beispiel?"
Für einen Augenblick zögerte er und überlegte, ob er ihr tatsächlich von seinem eher tristen Leben, von seinem nichtssagenden Elternhaus und von seinen Plänen für die Zukunft wahrheitsgemäß berichten sollte. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihr strahlende Lügen über seine Lebensumstände aufzutischen. Aber er hätte damit nur eingestanden, dass er sich seines wahren Lebens schämte. Er entschied sich, nicht zu lügen. Es wäre nicht richtig gewesen. Trotz aller Durchschnittlichkeit, die sein Leben bestimmte – er wollte kein Anderer sein. Er war Georg Schäfer. Entweder sie akzeptierte ihn, wie und was er war, oder sie machte sich über ihn und sein Mittelmaß – wenn er es denn überhaupt besaß – lustig. Dann würde er sie auch mit Lügen nicht beeindrucken können. Nicht auf Dauer.
Also erzählte er ihr brav von seinen Eltern, von ihrer Kundschaft, von seines Vaters überstandener Krankheit, von seinem eigenen Verlangen, dem Dunstkreis des Schankraums in Altona zu entkommen, und dass er in der Neuköllner Bierschwemme doch im gleichen Milieu geblieben war. Über Hilde und Marie verlor er kein Wort. Und auch seine Zukunftspläne behielt er weitgehend für sich.
"Ich habe nur über mich geredet", entschuldigte er sich, als sie zur Uhr schaute. Sie trug eine kleine goldene Uhr mit einem Milanese-Armband. Bei Hilde oder Marie hätte er gewusst, dass es Messing oder ein anderes goldfarbenes Metall wäre, aber sie trug wahrscheinlich echtes Gold.
"Dabei weiß ich nicht einmal, wie Sie heißen", fuhr er mutig fort.
Diesmal entschuldigte sie sich, blickte ihn prüfend an, als überlege sie, ob er es wert sei, ihren Namen zu erfahren, und antwortete nach einem kurzen Zögern:
"Ich bin Ellen Charlotte Kleeberg."
Immer noch schaute sie forschend in seine Augen, als erwarte sie eine bestimmte Reaktion. Er fühlte sich unsicher unter ihrem Blick, wusste nicht, womit sie rechnete und trat einfach die Flucht nach vorn an:
"Müsste ich Sie kennen? Sind Sie irgendwie bekannt? Oder Ihr Vater?"
Sie schüttelte den Kopf und lachte seltsam befreit auf:
"Nein, ich bin keine bekannte Person. Ich habe nur mit einer anderen Reaktion gerechnet."
Aber was sie eigentlich erwartet hatte, wollte sie nicht sagen. Auf alle Fragen schüttelte sie nur lächelnd ihren Kopf.
Er gestattete ihr nicht, den Kaffee zu bezahlen. Es gab eine kurze Diskussion. Aber er setzte sich durch.
Auf dem Weg zurück in die Buchhandlung nahm sie seinen Arm und erzählte von ihren Kollegen, die stolz waren auf das Wissen, das sie sich angelesen hatten. Nun versuchten sie, ihr mit der durch den Umgang mit Büchern erworbenen Urteilskraft zu imponieren. Georg fühlte sich – wieder – ihr und ihrem Umkreis hoffnungslos unterlegen. Aber er lachte mit ihr über die kleinen Angebereien der Männer aus der Buchhandlung, über die sie sich lustig machte, ohne bewusst verletzend zu sein. Sie schien ihn, den Gastwirtssohn, der stolz auf den Besitz zweier Bücher war, zu mögen.
Die gemeinsamen Besuche des kleinen Cafés wurden zu einer ständigen Einrichtung. Wenn es ihm möglich war, tagsüber eine Stunde Pause zu machen, fuhr er mit der S-Bahn bis zum Kurfürstendamm, ging ein paar Minuten zu Fuß bis zur Buchhandlung, machte Ellen auf sich aufmerksam, sie nickte, und nach ein paar weiteren Minuten verließ sie den Laden. Gemeinsam schlenderten sie