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Der Pferdestricker. Thomas Hölscher
Читать онлайн.Название Der Pferdestricker
Год выпуска 0
isbn 9783750219397
Автор произведения Thomas Hölscher
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Sie sah sich um, und sofort kam es ihr in den Sinn, dass sie sich natürlich in ihrem Reiseführer auch ausgiebig über die Flora und Fauna der Insel kundig gemacht hatte; aber nichts von der sie im Augenblick umgebenden Natur hätte sie bestimmen und mit Worten belegen können. Es sah hier aus wie in einer ausgedehnten Dünenlandschaft irgendwo an der Nord- oder Ostsee, das konnte sie sagen, die hohen Bäume inmitten des erstaunlich frischen Grüns noch als Pinien identifizieren, aber das reichte den Ansprüchen nicht, die sie an sich selber stellte; der Boden war sandig und hatte sich zu leichten Hügeln oder Dünen geformt, die Büsche machten einen wiederstandsfähigen und stacheligen Eindruck, und als ihr dieser Satz noch einmal durch den Kopf ging, empfand sie seine Plattheit als geradezu peinlich für einen gebildeten Menschen ihres Kalibers. Heute Abend, das nahm sie sich nun vor, würde sie sich in ihrem Reiseführer wirklich kundig machen über die Flora und Fauna Mallorcas. Sie wollte nicht auch noch zugeben, dass sie eine solche Idee nur erfreute, weil sie auf diese Art und Weise zumindest für eine bestimmte Zeit in ihrem Hotelzimmer beschäftigt sein würde. Statt dessen fielen ihr die Schüler wieder ein: auch nach mehrjährigem Studium der alten Sprachen würden sie daran scheitern, die Wörter Flora und Fauna sprachgeschichtlich herzuleiten. Von der mythologischen Dimension des Wortes „Fauna“ ganz zu schweigen. Flora und Fauna würden sie wegen des Wortes „und“ lediglich für irgendwie zusammengehörende Begriffe halten, vergleichbar und austauschbar mit C und A, Blau und Weiß oder Dick und Doof. Und wer die belangloseste Episode im Leben eines noch belangloseren Popstars bereits für wesentlich mehr als einen kleinen Pups hielt, der musste sich natürlich mit so etwas wie Mythologie gar nicht mehr beschäftigen! Sie dachte an ein paar Schülerinnen, die sie bereits mehrfach im Unterricht bei der Lektüre irgendwelcher sogenannter Storys über sogenannte Boygroups erwischt hatte, und sie war erleichtert über die Ablenkung, die ihr die Verachtung dieser Schülerinnen verschaffte. Den Satz über die Belanglosigkeit dessen, womit sich diese kleinen Ziegen beschäftigten, würde sie sich heute auch noch aufschreiben, um ihn bei nächster Gelegenheit an den Mann oder besser die Frau zu bringen. Das Wort „Pups“ würde sie weglassen.
Statt dessen kam das Wort Mythologie wieder in ihr Bewusstsein. Und als ihr die Diskrepanz zwischen der Bedeutung dieses Wortes und der Belanglosigkeit von Schülerinteressen bewusst wurde, musste sie sogar leise lachen. Aber sofort war ihr dieses Lachen dann wieder vergangen, als ihr die schiere Unmöglichkeit deutlich wurde, einer vollkommen dummen und ignoranten Masse die Reichweite dieses Begriffs jemals zu verdeutlichen. Und als sie dann glaubte, immer schon gewusst zu haben, einem Beruf nachzugehen, in dem man an der Verantwortung, die man trug, fast verzweifeln konnte, gelang es ihr sogar für kurze Zeit, in einem unverbindlichen Gefühl aus Stolz, Resignation und Weltschmerz zu schwelgen.
Die Mythologie, das war schließlich nicht weniger als Ursprung und Grundlage des menschlichen Denkens und damit aller Entwicklung. Es gab nichts anderes, von dem sie so felsenfest überzeugt war. Was wir als Erkenntnis zunächst nur in Bildern formulieren und weitergeben konnten, wurde durch den kritischen Geist immer wieder in Frage gestellt und schließlich durch das Wort, den Begriff, die Sprache auf den Punkt gebracht und überwunden. Und die Entwicklung, die die Menschheit insgesamt durchlaufen hatte, wurde von jedem einzelnen Menschen im Laufe seines Lebens wiederholt. Das Kind dachte in Bildern, der erwachsene Mensch in der Sprache; nur im Traum und in krankhaften Geisteszuständen konnten die Bilder wieder die Oberhand im Denken des zivilisierten Menschen erlangen. Und als sie daran dachte, musste sie wieder lachen: Ihre Schüler würden vielleicht eines Tages zu der Erkenntnis kommen, dass die Beschäftigung mit den Bildern von Boygroups in einem Jugendmagazin ein überflüssiger Umweg und damit verschwendete Zeit war; aber zu einem Mehr an Erkenntnis würde es wohl kaum reichen.
Und dann hatte sie etwas gehört. Es hatte sie nicht erschreckt, es hatte nur diese unendliche Ruhe und das klitzekleine Bisschen Seelenfrieden gestört, den ihr ihre Lieblingsbeschäftigung, die Verachtung anderer Menschen, für kurze Zeit verschafft hatte. Und sie hätte auch beim besten Willen nicht sagen können, was genau sie gehört hatte. Es waren keine Stimmen gewesen, vielleicht war es sogar irgendetwas gewesen, das mit Menschen gar nichts zu tun hatte, und plötzlich machte ihr gerade diese Vorstellung Angst. Fremde Menschen waren ihr, wenn sie ehrlich war, immer unheimlich gewesen, es gab in Wirklichkeit kaum jemanden, vor dem sie nicht Angst hatte und den sie aus eben diesem Grund zu verachten versuchte; aber gegen andere Menschen hatte sie zumindest wegen ihrer Intelligenz immer noch eine Chance gehabt.
Als sie voller Anspannung den Atem anhielt, hörte sie wieder Geräusche, und nun waren diese Geräusche eindeutig als menschliche Stimmen zu identifizieren. Und als sei dies das endgültige Signal, nun unbedingt äußerste Vorsicht walten zu lassen, ging sie hinter einer dichten Buschreihe in die Hocke und starrte gebannt in die Richtung, aus der die Stimmen gekommen waren. Vor ihr lag eine sandige Mulde, die von der Höhe, auf der sie stand, vollständig einsehbar war.
Es waren zwei Männer, die langsam und leise miteinander redend über den gegenüberliegenden Dünenrand kamen, so dass zunächst nur ihre Köpfe, dann ihre Oberkörper und schließlich ihre gesamten Körper sichtbar wurden. Der eine der Männer mochte Anfang, Mitte 50 sein, der andere vielleicht Mitte bis Ende 20. Der ältere war untersetzt, wirkte grobschlächtig; der jüngere war schlank und groß. Aber es waren nicht ihre körperlichen Merkmale, was sie in Erstaunen versetzte: der ältere Mann trug ein rot-weiß kariertes Hemd, eine dreiviertellange Lederhose, passende derbe Schuhe und ein Baseballcap, Kleidung, mit der er auf dem Münchener Oktoberfest und vielleicht auch am Ballermann in Arenal keinerlei Aufsehen erregt hätte, hier aber irgendwie deplaciert wirkte. Der jüngere Mann war unauffällig gekleidet: T-Shirt, Turnhose, Sportschuhe und ebenfalls ein Baseballcap. Er trug außerdem einen Rucksack und sah aus wie jemand, der gerade den Rückweg vom Strand angetreten hatte.
Und dann dieses Pferd. Es war kein Pferd, es war eher ein Pony, und doch sah es nicht aus wie ein Pony, sondern eher wie ein Pferd. Ihre Gedanken kamen ihr selber albern vor, und doch war es genau so: Dieses Tier war viel kleiner als ein Pferd, aber es war nicht so rundlich und fett, wie man es von Ponys gewohnt war. Würde sie es nun alleine hier in dieser Mulde sehen, so ließe es sie an ein edles Araberpferd denken; da der untersetzte ältere Mann es an einer Leine hinter sich herzog, wirkte es im Vergleich zu ihm aber kleiner als ein normales Pferd, geradezu zerbrechlich. Und dann war ihr klar, dass ihr zu der Szene, die sich ihren Augen bot, einfach keine Geschichte zur Begründung einfallen wollte: Was machten diese zwei erwachsenen Männer in dieser gottverlassenen Gegend mit diesem Tier? Es sah einfach grotesk aus.
Mittlerweile waren die beiden Männer in der Mitte der Senke stehen geblieben und der junge Mann hatte den Rucksack von seinem Rücken auf den Boden fallen lassen. Anschließend waren beide Männer damit beschäftigt, irgendwelche Utensilien in dem Rucksack zu suchen. Der junge Mann hatte schließlich eine Kamera in der Hand, er stand auf und hielt sich das Okular der Kamera prüfend vor das Auge. Dann wurde ihm die Sucherei des älteren Mannes ganz offensichtlich zu bunt; er nahm energisch den Rucksack hoch und ließ kurzerhand den gesamten Inhalt in den Sand fallen. Sie konnte nicht erkennen, was in dem Rucksack gewesen war und nun wie achtlos weggeworfener Müll im Sand lag.
Ganz offensichtlich hatte es der junge Mann mit der Kamera eilig. Mit Gesten und Worten trieb er nun den älteren zur Eile an, und dann war ihr auch klar, dass sie Landsleute beobachtete: Nu mach doch schon! Wir sollten hier nicht ewig bleiben!, hatte sie ganz deutlich verstehen können. Dabei war ihr ein ganz leichter Akzent aufgefallen. Der junge Mann musste aus Osteuropa kommen. Der ältere kam ganz offensichtlich aus Bayern: Nu mach mal nicht die Pferde scheu, sagte er im reinsten Honoratiorenbayrisch und lachte plötzlich los.
Bereits als der ältere Mann ganz offensichtlich der Aufforderung zur Eile nachkam und auf das kleine Tier zuging, wurde er von dem jüngeren Mann mit der Kamera aufgenommen. Der ältere Mann nahm den Strick, der um den Hals des Tieres gebunden war, und ging anschließend in einem weiten Kreis um den mittlerweile in der Mitte der Mulde stehenden jungen Mann. Jetzt bleib mal stehen!
Der ältere Mann stand nun mit dem Rücken zu ihr; das Pferd trottete langsam auf ihn zu und blieb schließlich wie gelangweilt vor ihm stehen. Sie sah auf ihre Armbanduhr: es war viertel vor