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Verkehrsstau der Essener Innenstadt gestanden, die Margarethenhöhe als Beispiel einer Arbeitersiedlung besucht, sind durch das Ruhrtal gefahren, haben erfahren, dass Mülheim - früher ein Zentrum der lederverarbeitenden Industrie - heute ein Dienstleistungszentrum vor allem des Einzelhandels ist; im Duisburger Hafen haben wir den Bus verlassen und allerlei Schiffchen auf dem Rhein beguckt, auf kilometerlange Stahlwerke und stillgelegte Hochöfen gesehen. An dieser Stelle erwähnt der Reiseleiter schon zum dritten Mal, dass diese abgetakelte Industrielandschaft oft als Kulisse für die Schimanski-Tatorte hergehalten hat. Auch diesmal stößt er auf breites Unverständnis: die polnischen Gäste kennen Schimanski gar nicht, und ich habe ohnehin noch nie verstanden, was der eigentlich mit dem Ruhrgebiet zu tun haben soll.

      Eher schon die A42, über die wir durch die Emscherzone nach Essen zurückfahren. Hier zeigt das Ruhrgebiet wirklich den Arsch, hat mir ein Bekannter aus Süddeutschland vor ein paar Jahren mal gesagt und damit bei mir ein seltsames Jetzt-erst-recht-Gefühl ausgelöst: Was hast du denn vom Kohlenpott erwartet? Einen Luftkurort? Wichtig ist doch, dass die Menschen sich hier wohl fühlen und nirgendwo anders wohnen wollen. Und das ist einfach so. Eine Meinung, die ich später zwar noch oft vertrete; aber mittlerweile, im Jahr 2019, habe ich immer größere Probleme damit.

      Als der Bus auf die B224 abbiegt, sind ein paar der polnischen Gäste nur aus Höflichkeit noch nicht eingeschlafen. In Bottrop-Ebel werden alle noch einmal geweckt. Der Bus hält direkt vor dem Förderturm der Zeche Prosper II, einem angeblich architektonisch und industriegeschichtlich interessanten Bauwerk: in einen wuchtigen Malakoffturm aus dem vergangenen Jahrhundert hat man in diesem Jahrhundert ein Stahlfördergerüst gebaut. Auf die Gruppe scheint das nicht sonderlich viel Eindruck zu machen; auch nicht die Tatsache, dass man auf der Zeche „Prosper Haniel“ noch bis zum Zweiten Weltkrieg hauptsächlich polnisch geredet hat. Sogar die Hinweisschilder unter Tage waren angeblich zweisprachig, unternehme ich einen letzten Versuch; aber in Gedanken ist man wahrscheinlich schon an der Ruhr-Universität in Bochum, die am Nachmittag auf dem Programm steht. Was sollen wir denn hier?, fragt eine Frau. So etwas gibt es bei uns in Oberschlesien noch mehr als genug. Außerdem sollten wir vor allem den wirtschaftlichen Wandel zu sehen bekommen; der Bergbau ist doch Schnee vom vorigen Jahr.

      Augenblicklich rebelliert etwas in mir gegen diese Behauptung. Schnee vom vorigen Jahr?

      Das Ruhrgebiet und der Bergbau gehören in meiner Vorstellung einfach zusammen, sind geradezu identisch. Der Kohlenpott eben. Das hat man schließlich schon im Heimatkundeunterricht gelernt: Wir haben die Sage vom Schweinehirten gelesen, der zufällig die Kohle entdeckt haben soll; auf einer Karte von Gelsenkirchen mussten wir die Straßennamen heraussuchen, die mit dem Bergbau zu tun hatten: Bergmannstraße und Hauergasse leuchteten noch unmittelbar ein, St.Barbara-Straße und Schlägelstraße wurden erklärt. Flöz Dickebank wusste auch unser Frollein nicht so ganz genau. Sie kam nämlich aus Münster und war insgeheim stinksauer darüber, dass die Schulverwaltung sie in dieses „Drecksloch“ geschickt hatte.

      Als wir in den 60er Jahren Verwandte in Nürnberg besuchen und ich als Kind immer wieder hören muss wie schön diese Stadt doch ist, sage ich schließlich aus lauter Wut, dass ich Gelsenkirchen aber viel schöner finde. Dem anschließenden Gelächter nach zu urteilen ein gelungener Witz. Dabei ist meine Reaktion über Jahrzehnte durchaus typisch für jemanden aus dem Ruhrgebiet: dem schlechten Image bei der Außenwelt entsprach immer eine nicht geringe Hochschätzung der Region durch die Einheimischen. Es ist eben immer die Frage, was aus welchen Gründen für wen „schön“ ist.

      Innerhalb des Ruhrgebiets scheint dem schlechten Außenbild immer schon der Hang zur Unterscheidung im eigenen Laden entsprochen zu haben. Und das aus Gründen: in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird oft innerhalb weniger Jahre die einheimische Bevölkerung zur verschwindenden Minderheit. Die Not und die Aussicht auf Arbeit treiben Hunderttausende aus zumeist agrarisch bestimmten und wirtschaftlich rückständigen Regionen ins Ruhrgebiet. Ganz besonders gilt das für die Emscherzone, wo in einer Zeitspanne von nur 50 Jahren aus völlig unbedeutenden Dörfern Großstädte werden. Zumindest von ihrer Bevölkerungszahl her: Hamborn beispielsweise wird noch im Jahr 1910 mit über 100000 Einwohnern die kommunale Selbstverwaltung verweigert; man lebt dort also nicht in der Großstadt, sondern im größten Dorf Deutschlands. Auch heute noch lebt man zumindest verwaltungstechnisch ja nicht im Ruhrgebiet, sondern in einem sog. Ballungszentrum, das drei verschiedene Regierungsbezirke unter sich aufgeteilt haben und in dem die einzelnen Kommunen oft mehr gegen- als miteinander arbeiten.

      Ein solches staatliches Vorgehen verhinderte natürlich zusätzlich die Identitätsfindung der Bevölkerung im Sinne einer bürgerlichen städtischen Gemeinschaft. „Dass unter solchen Verhältnissen das Wachsthum der Bevölkerung des Ortes ein ganz abnormales werden mußte, läßt sich nicht verkennen. Daß wir hier in sittlicher Beziehung unter dem Normalpunkt stehen, kann bei der abnormen Bevölkerung und beschränkten Seelsorge kein Wunder nehmen.“ Mit diesen Worten beklagt der Bürgermeister von Gelsenkirchen im ersten Verwaltungsbericht aus dem Jahr 1877/78 die ungesunde Sozialstruktur seiner Stadt. Es gibt viel zu viele Arbeiter, der bürgerliche Mittelstand fehlt fast völlig. Und folgerichtig ist jeder noch so kleine Kleinbürger mehr als ein Arbeiter. Etwas Besseres eben.

      Dabei sind noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Bergleute eine ständisch organisierte und relativ privilegierte Schicht der Bevölkerung; durch das sog. Direktionsprinzip sind alle am Bergbau Beteiligten - Gewerken und Arbeiter - einer unabhängigen staatlichen Bürokratie unterworfen, die vor allem die Bergleute vor privaten Gewinninteressen schützt. Als Gegenleistung für diese feudale Variante der „Subventionierung“ des Bergbaus verlangt der Staat allerdings unbedingte Loyalität. Erst durch das Allgemeine Bergrecht wird 1861 der Rechtsrahmen für eine kapitalistisch orientierte Produktionsweise im Bergbau endgültig festgeschrieben. Am Ende des 19. Jahrhundert ist aus dem ständisch-privilegierten Bergmann letztendlich der Industriearbeiter geworden, der dem Diktat der Unternehmerinteressen weitgehend schutzlos ausgeliefert ist, schließlich sogar ersetzbar durch jeden arbeitsfähigen Tagelöhner, so dass zu dem erheblichen Prestigeverlust ein zumeist nicht unerheblicher Verlust an sozialer Sicherheit und Einkommen hinzukommt.

      Der Bergmann des Ruhrgebiets ist immer der Industriearbeiter gewesen, weitgehend ohne Traditionsbewusstsein, ohne Identität, oft diffamiert und verkannt. Es fehlt die große Tradition anderer Bergbaugebiete, und was der Bergmann des Ruhrgebietes dennoch an „Kultur“ im weitesten Sinne hervorgebracht hat, ist für die bürgerliche Gesellschaft immer zweite Wahl geblieben, schlechte Kopie im Stile des Gelsenkirchener Barock, von der bürgerlichen Kultur oft nur spöttisch belächelt und mit dem Flair des Peinlichen umgeben, von dem man sich doch besser distanziert. Über Jahrzehnte gilt das auch für die Überbleibsel der Industriegeschichte: Fördertürme, Werkhallen, Arbeitersiedlungen werden reihenweise platt gemacht. Dass auch sie Denkmäler (der vielleicht wichtigsten Epoche in der Menschheitsgeschichte) sind, wird erst spät Bestandteil des öffentlichen Bewusstseins. Bis zur Anerkennung eines Weltkulturerbes ist es ein weiter Weg. „Die Fähigkeit, die Materie spielerisch zu beherrschen“, meinte der Künstler Alfred Schmidt (verstorben 1997, erster Ehrenbürger des Ruhrgebiets), „hat den Bergleuten eine gewisse Souveränität gegeben, eine bestimmte Selbstgewissheit. Dies stand immer in krassem Gegensatz zur Einschätzung der Bergleute durch andere. Vor Kohle waren sie Könige, über Tage die untersten der Industriearbeiter. Das Verweigern der Anerkennung ist eine ständige Beleidigung dieser Menschen. Ungeheuerlich!“

      Diese diffamierende Einstellung bleibt bewusst oder unbewusst noch lange in den Köpfen der Leute. Die „Volksschule“ Anfang der 60er Jahre lag direkt neben der Siedlung Schüngelberg der Zeche „Hugo“. Der größte Teil der Mitschüler stammte aus Bergarbeiterfamilien. Und er blieb auch auf dieser Schule. Nach dem vierten Schuljahr, 1964, gehen aus meiner Klasse von ungefähr 40 Schülern gerade mal vier zu weiterführenden Schulen. Unsere Väter sind kaufmännischer Angestellter, Polizeibeamter, Lehrer und Steiger. Steiger war zwar auch einer vom Pütt, aber eben doch etwas Besseres. Aber Arbeiterkinder haben auf dem Gymnasium ohnehin nichts zu suchen: Diese Fülle an Lebensweisheit wurde auf dem Max-Planck-Gymnasium in Gelsenkirchen noch Ende der 60er Jahre mit der größten Selbstverständlichkeit vertreten. Und nach dieser Maxime wurde auch gehandelt.

      Oder der Ersatzdienst als Kriegsdienstverweigerer: ich arbeite Anfang der 70er Jahre

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