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Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard Kipling
Читать онлайн.Название Rudyard Kipling - Gesammelte Werke
Год выпуска 0
isbn 9783746747873
Автор произведения Rudyard Kipling
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Als Rikki erwachte, lag er in der heißen Sonne auf dem Rasenplatz eines fremden Gartens; und ein Knabe, der neben ihm stand, rief: »Mutter, das Wasser hat einen toten Mungo angeschwemmt. Komm, wir wollen ihn begraben.«
»Wer weiß, ob er tot ist«, meinte die Mutter. »Trage ihn herein, wir wollen ihn wärmen und trocknen.«
Sie brachten ihn ins Haus; und ein großer Mann nahm ihn hoch und sagte, er wäre nicht tot, sondern nur betäubt. So wurde er sorgsam in Watte gepackt und gewärmt. Dann schlug Rikki die roten Augen auf und nieste.
»Still jetzt«, sagte der große Mann (ein Engländer, der vor kurzem in den Bungalow eingezogen war). »Erschreckt ihn nicht, sonst läuft er davon.«
Einen Mungo erschrecken, das ist nun so ziemlich das Schwerste auf der Welt, denn er ist ganz Neugier von der Nasenspitze bis zum Schwanz. Und alle Mungovölker haben den Wahlspruch: »Lauf und sieh.« Rikki blinzelte die Watte an, beschnüffelte sie und entschied, daß sie nicht gut zu essen sei; dann streckte er sich, rannte um den Tisch, setzte sich aufrecht und leckte sich nach Katzenart – dann kratzte er sich, und mit plötzlichem Sprunge saß er auf der Schulter des Knaben.
»Keine Angst haben, Teddy«, lachte der Vater. »Das ist nun einmal seine Art, Freundschaft zu schließen.«
»Hu! Er kitzelt mich – am Kinn und nun am Halse«, rief Teddy.
Rikki-Tikki schob seinen Kopf hinter den Kragen des Knaben und schaute neugierig am Hals hinab, er schnupperte am Ohr – oben und unten – und als er in der Mitte ein Loch sah, schob er seine rosa Nase hinein. Teddy schrie auf und schüttelte sich, während Rikki zur Erde sprang und sich die Pfoten leckte. »Das soll ein wildes Tier sein?« rief Teddys Mutter. »Es ist wohl zahm, weil wir gut zu ihm waren?«
»Alle Mungos sind so zahm«, antwortete der Vater. »Wenn Teddy ihn nicht quält, ihn nicht am Schwanz zieht oder ihn in einen Käfig zu sperren sucht, wird er ganz zutraulich werden und bei uns bleiben. Vielleicht frißt er schon.«
Man gab ihm ein Stückchen rohes Fleisch, das ihm anscheinend sehr gut schmeckte. Dann lief Rikki zur Veranda, setzte sich mitten in die Sonne und blies sich auf, bis sein schöner Pelz bis auf die Haut trocken war. Nun erst fühlte er sich wirklich wohl.
»Es gefällt mir hier viel besser als daheim im alten Loche«, sagte er zu sich selber. »Hier im Hause sind mehr Dinge zu finden, als meine ganze Familie je gesehen hat. Ich muß hierbleiben, bis ich alles beschnüffelt und ausgekundschaftet habe.«
Den ganzen Tag spürte er in allen Winkeln umher. In der Badewanne wäre er beinahe ertrunken; seine rosa Nase färbte sich ganz schwarz in dem Tintenfasse auf dem Schreibtisch, und er verbrannte sich die Zunge, als er das glühende Ende der Zigarre untersuchen wollte, die aus dem Munde des großen Mannes qualmend hervorragte. Am Abend beobachtete er neugierig in der Kinderstube, wie die Lampen angezündet wurden; und als Teddy sich ins Bett legte, probierte er, ob ihm die Strümpfe oder die Hosen des Knaben paßten. Er kletterte dann auf die Kissen und schloß die Augen, als ob er schlafen wollte. Aber er war ein rastloser Gefährte, denn bei dem kleinsten Geräusch schreckte er auf und begann eine umständliche Untersuchung anzustellen. Teddys Mutter und Vater kamen in die Stube, um gute Nacht zu sagen, und Rikki blinzelte ihnen von den Kissen entgegen.
»Nein, das geht nicht«, sagte die Mutter. »Vielleicht beißt er Teddy.«
»Er denkt nicht daran«, erklärte der Vater. »Im Gegenteil, dieser kleine Kerl hält besser Wache als ein Bluthund. Käme zum Beispiel eine Schlange in die Stube ...«
Aber Teddys Mutter wollte an etwas so Schreckliches gar nicht denken. Am nächsten Morgen stellte sich Rikki-Tikki rechtzeitig zum Frühstück ein; er hatte einen lustigen Ritt auf Teddys Schulter zur Veranda gemacht und sog schnuppernd den Duft der Teekanne, des Schinkens und der Eier in die Nase, die er sich während der Nacht wieder rosa geleckt hatte. Man gab ihm ein wenig von den süßen Bananen und gekochten Eiern, und zum Dank sprang er von Schoß zu Schoß und schnüffelte allen an den Händen herum. Er hatte sich vorgenommen, der Hausliebling zu werden, denn seine Mutter, die in der Familie des Kommandierenden Generals in Segowlee gelebt, hatte ihm genau erzählt, wie man so etwas anfangen müsse.
Nach dem Frühstück lief Rikki-Tikki in den Garten, um zu sehen, was es dort gab. Der Garten war groß und nur zur Hälfte bebaut; da standen ungeheure Rosenbüsche, um die man kaum mit zwölf großen Schritten herumgehen konnte, und Orangen- und Zitronenbäume, die das ganze Jahr lang mit Blüten und Früchten bedeckt waren. In dem anderen, wilden Teil des Gartens wuchsen Bambusrohr und dichtes Gras bis zur Manneshöhe empor – kurz, es war ein Platz, wie ihn sich ein Mungo nicht schöner wünschen konnte. Vergnügt sprang Rikki einigemal in die Luft und leckte sich die Lippen. »Das gibt hier eine prächtige Jagd«, sagte er, und bei dem Gedanken hob sich sein buschiger Schwanz erwartungsvoll wie eine Flaschenbürste. Und dann lief er umher, drang in das Dickicht, roch hier, schnüffelte dort, bis er plötzlich im Dornbusch klagende Stimmen vernahm. Es waren Darsie, der Webervogel, und seine Frau. Sie hatten ein prächtiges Nest gebaut aus zwei großen, zusammengelegten, kunstvoll mit Fasern verschnürten Blättern; und innen war es mit Watte und allerhand weichen Sachen ausgepolstert. Jetzt aber saßen sie vor dem Nest und weinten.
»Was habt ihr denn?« fragte Rikki-Tikki.
»Ach, uns ist es schlimm ergangen!« sagte Darsie; sein Weibchen konnte vor Schluchzen nicht sprechen. »Eins unserer Jungen ist gestern aus dem Nest gefallen, und Nag hat es gefressen!«
»Hm!« machte Rikki-Tikki. »Das ist allerdings sehr traurig. Aber wer ist denn Nag? Ich bin hier nämlich fremd und kenne die Völker des Gartens nicht.« Darsie und seine Frau verstummten und duckten sich tief in das Nest, denn aus dem dichten Grase unter dem Dornbusch klang ein Zischen – so scharf und klar und drohend, daß Rikki-Tikki vor Schreck zwei volle Fuß zurücksprang. Und dann kroch es Zoll für Zoll heraus aus dem Gebüsch, voran der Kopf mit der ausgebreiteten Haube, bis der ganze, fünf Fuß lange Körper sichtbar war – der Körper von Nag, der großen schwarzen Kobra. Dann richtete Nag den Kopf hoch und schwang ihn hin und her und starrte auf Rikki-Tikki mit dem bösen, kalten Schlangenblick, der immer den gleichen starren Ausdruck behält, was der Kopf auch für Gedanken haben mag.
»Wer Nag ist?« züngelte die Kobra. »Schau mich an. Ich bin Nag. Der große gnädige Brahma drückte all unserem Volk das Zeichen auf, weil die erste Kobra mit ihrer Haube den schlafenden Gott vor der brennenden Sonne schützte. Schau und zittere!«
Er spreizte weit die Haube, und Rikki-Tikki sah auf der Kehrseite das brillenförmige Zeichen. Rikki fürchtete sich wirklich einen kurzen Augenblick, dann aber erinnerte er sich, wer er sei. Obgleich er noch niemals eine lebende Kobra gesehen, so hatte ihn doch seine Mutter oft genug mit toten Kobras gefüttert, und er wußte, daß es die Lebensaufgabe eines erwachsenen Mungos war, Schlangen zu vertilgen. Nag wußte das gleichfalls, und trotz seines undurchdringlichen, starren Auges hatte er Furcht im Grunde seines kalten Herzens.
»Dummes Geschwätz!« sagte Rikki-Tikki. »Brahma hin, Brahma her, aber du solltest dich schämen, kleine Nestküken aufzufressen.«
Nag schwieg und starrte unverwandt auf das Gras hinter Rikki-Tikki. Er wußte, daß die Anwesenheit eines Mungos im Garten für ihn und seine Familie über kurz oder lang den Tod bedeutete, und so sann er auf eine List. Um Rikki sorglos zu machen, senkte er den Kopf ein wenig und hielt ihn zur Seite.
»Laß uns vernünftig reden«, sagte er. »Du frißt Eier. Warum soll ich nicht kleine Vögel schlingen?«
»Hinter dir! Schau zurück!« piepste angstvoll Darsie.
Rikki-Tikki war zu klug, um Zeit mit Umschauen zu verlieren. Er sprang gerade in die Luft, so hoch er konnte, und breit zischend schoß Nagainas Kopf unter ihm durch. Das Weibchen Nags war unbemerkt hinter seinen Rücken gekrochen, um ihn mit einem Biß zu erledigen.