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Sieben Gründe, warum wir nicht so gut sind, wie wir sein könnten. Peter Schmidt
Читать онлайн.Название Sieben Gründe, warum wir nicht so gut sind, wie wir sein könnten
Год выпуска 0
isbn 9783847690795
Автор произведения Peter Schmidt
Жанр Социология
Издательство Bookwire
Sicher kann man sich im Einzelfall immer irren, also auch in unseren Beispielen. Solche Fragen ersetzen keinen Intelligenztest. Es geht nicht um Herabsetzung, sondern um Verstehen. Aber sollte nicht angesichts der Gräuel des Holocaust die Frage erlaubt sein, warum nach den ersten Synagogenbränden, den ersten Judensternen, den ersten boykottierten Geschäften jüdischer Händler wenigstens als schlichte Frage ein Aufschrei in Deutschland ausblieb: Und warum genau werden diese Menschen diffamiert?
Konstatieren wir also, dass am Beginn eines barbarischen, unmenschlichen, gegen jede Moral und jedes Recht verstoßenden millionenfachen Mordes nicht nur dumpfe Gefühle und unkritisches Mitläufertum oder Sorge um die eigene Sicherheit stehen, sondern womöglich auch ein klares intellektuelles Defizit.
Oder eben auch zusätzlich kalte Pflichterfüllung und Härte, fehlende Empathie, pathologischer Hass auf Juden bei jemandem, der besser als jeder andere wusste, was er tat. Heinrich Himmler am 7. Juli 1941 an seine Frau Marga: „Ich fahre nach Auschwitz. Küsse, Dein Heini.“
Die „Denkmuster“ des Holocaust – wenn man es denn so nennen will – sind bekanntlich kein bloßer Betriebsunfall der Geschichte. Es handelte sich auch nicht nur um einen kleinen Kreis eigentlich verantwortlicher Akteure um Hitler – wie Himmler, Heydrich, Eichmann und ihre Vollstrecker vor Ort, zum Teil auch ausländische Zuarbeiter („Trawniki“) –, sondern selbst die gewöhnliche Polizei, erst recht die Gestapo, war für Tausende von Morden an Juden und anderen als minderwertig angesehenen Bevölkerungsgruppen verantwortlich.
Wir erleben Ähnliches in den afrikanischen ethnischen Kriegen, z. B. im Kongo, im Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten in Nordafrika und in vielen ähnlichen Konfliktsituationen auf allen gesellschaftlichen Ebenen.
Eine Gesellschaft, die zu solchen Fehlern imstande ist, wird auch dann nicht ausreichend klüger, wenn darauf eine Demokratisierungsperiode folgt, wie gegenwärtig nach dem Nationalsozialismus und Holocaust. Aufklärung ist hier – im Kern – eben nicht Analyse, sondern auch nicht viel mehr als wohlfeile Anpassung an den gerade geltenden Mainstream.
Daran ändern auch die Möglichkeiten des Internets mit Meinungsäußerungen und Diskussionsforen trotz aller wünschenswerten Informationen erkennbar nicht so viel, dass man von einer neuen Ära, einem Phasensprung innerhalb der aufgeklärten Gesellschaft reden könnte.
Unsere Prognose, ob nach solchen Katastrophen ähnlichen Entwicklungen vorgebeugt wird, kann daher nur negativ sein.
Wie in These „Die Krankheit des Bewertens“ gezeigt, betrifft dieses intellektuelle Defizit vor allem auch Bewertungen – und zwar mit beträchtlichen negativen Folgen.
Katastrophen solcher Art wiederholen sich nicht 1:1, sondern suchen sich – wegen unveränderter Grundeinstellung – ein anderes, neues „Gesicht“, eine Gestalt, in der die problematischen mentalen und intellektuellen Bedingungen nicht mehr so offensichtlich vergleichbar sind.
Das heißt, wir werden glücklicherweise in naher Zukunft wohl keine Abtransporte von Juden mehr erleben, keine Kristallnacht mit brennenden Synagogen, keine Bücherverbrennung, keinen verschlagenen Scharfmacher wie Göbbels, keinen schreienden Demagogen wie Hitler. „Hitler wird er nicht heißen – aber was heißt das schon?“, so der Schriftsteller Michael Klaus.
Die Gesellschaft verhält sich zwar kritischer und aufgeklärter eingedenk der jüngsten Vergangenheit. Doch der schöne Schein trügt und verschleiert nur das eigentliche Problem – unsere mentale Grundhaltung und die anscheinend irreparable analytische Schwäche, die ihr zugrunde liegt. Der Seelenfriede des Wertobjektivisten ist nur eine „schön tapezierte Fallgrube“. Das Nazi-Drama der Vergangenheit führt eher zu einem Kontrastproblem, zur Blendung, zu einer Art Sehschwäche, gegenwärtige destruktive Tendenzen geringer zu bewerten:
Geheimdienste kontrollieren Telefon und Internet in einem Ausmaß, von dem Gestapo und Stasi nur hätten träumen können. Banken und Börsen zocken mit unermesslichen Summen bei höchstem Risiko, womöglich wohlkalkuliert, auf Kosten des Steuerzahlers. Die Besitzenden bestimmen in einer Klassengesellschaft von Arbeitnehmern und Kapitaleignern fast ausschließlich allein, wohin die Wirtschaft steuert – obwohl sie ohne Mitarbeiter gar nicht existieren könnten.
Ausbeutung ohne Mindestlöhne ist, besonders bei ausländischen Arbeitnehmern, an der Tagesordnung. Doch selbst Mindestlöhne sichern keine ausreichende Rente. Frauen werden in der Regel schlechter bezahlt, Erwerbslose in einer reichen Gesellschaft am Rande des Existenzminimums gehalten – bei über 30 Milliarden Euro Rüstungsetat in Deutschland, den uns unsere Bereitschaft zur Gewalt kostet.
Menschen sterben, weil sie auf den Meeren der Welt ein lebensgefährliches Risiko eingehen, um an den Türen der Satten und Reichen um Arbeit zu bitten. Aus Angst vor Missbrauch des Sozialhilferechts wird zum Beispiel zugezogenen Rumänen trotz Freizügigkeit innerhalb der EU in den ersten drei Monaten die finanzielle Unterstützung versagt, gleichgültig, ob sie arbeitssuchend sind oder nicht.
Transsexuelle, Transgender, Intersexuelle, Lesben, Schwule sind trotz aller deklamierten Öffnung der Gesellschaft weiterhin diskriminiert. Menschen, die ihrem Leben, aus welchem Motiv auch immer, ein Ende setzen wollen, werden von einer autoritären Gesetzgebung und Politik in wilhelminischer Manier am Freitod gehindert – was im Einzelfall an Folter grenzt.
Auf Werbung spezialisierte Unternehmen und Finanzanbieter ziehen über Persönlichkeitsprofile aus dem Netz ungefragt Profit. Täglich neue Viren, Trojaner und andere Schadsoftware (Schätzungen schwanken zwischen Zigtausenden bis zu mehr als 20 Millionen Programmen z. B. in der Symantec-Datenbank), zeugen von der ungebrochenen Neigung des Homo sapiens, das Leben der Anderen zu hintertreiben.
Übersehen wir aber dabei auch nicht die Schwierigkeiten und Katastrophen im Kleinen, den alltäglichen „Holocaust im Taschenformat“ (falls es nicht pietätlos erscheint, die Schrecken einer solchen Tragödie auf kleinere Probleme herunterzubrechen):
Die Diktatur der herrschenden Meinung, des Mainstreams, der gerade geltenden gesellschaftlichen Norm.
Die Brutalität, wenn es in Politik und Wirtschaft um Machterhalt geht.
Die Radikalität der Fundamentalisten und Dogmatiker in Religion und Wissenschaft.
Die unausgesprochene, aber deshalb doch nicht weniger wirksame Nötigung, dem wirtschaftlichen Level, wechselnden Moden, Status und Bildungsniveau zu entsprechen.
Bereitwilliges, weil wohlfeiles Mobbing, sobald sich in der Gruppe ein Opfer anbietet.
Die Schrecken der Erziehung, wenn das Schicksal uns falsche Eltern beschert hat.
Das Desaster der Beziehungen, falls wir Liebe, Zuneigung und Vertrauen verlieren.
Die Gängelung der Abhängigen.
Die Willkür von Vorgesetzten.
Und nicht zuletzt das Bedürfnis, aus Gewohnheit selbst dann noch mitzuschwimmen im gesellschaftlichen Mainstream, wenn uns dadurch Schlaganfall, Herzinfarkt, Burnout oder Depressionen drohen …
Darüber hinaus zeigt sich, dass andere typische Formen unserer menschlichen und mentalen Grundverfassung mangels analytischer Defizite erst gar nicht als Problem in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten, wie zum Beispiel der Hang zur Lagerbildung (vergl. These „Zwanghafte Lagerbildung“). Solche Handlungsmuster tendieren schon deshalb dahin, übersehen zu werden, weil sie alltäglich und allgegenwärtig sind.
Ein anderes, kaum auszurottendes analytisches Defizit ist unser Glaube, dass sich Motivationen immer und überall aus anderen Motiven, rationalen Bewertungen, aus Erziehung und gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen, Moden und Bräuchen herleiten lassen. Tatsächlich aber gibt es genügend Belege für die – allerdings wohl eher unerwünschte und nicht zu unserem Selbstbild passende – Einsicht, dass der Mensch über weite Strecken ein Homo irrationalis ist und oft weder sich selbst noch andere hinsichtlich