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»Könnte ich nicht wenigstens eine kurze Zeit frei werden? Ich bin ja doch ein Mensch. Ich muß ein einziges Mal selbst über mich bestimmen können.«

      Der kranke Mann ergriff ihre Hände und zog diese an sich. – »Natürlich, Sie haben Ihr Recht auf das Leben genau wie wir anderen!« erwiderte er.

      In diesem Augenblick vernahmen sie Schritte hinter sich, sie sahen ein verstörtes Gesicht unter der Tür des Arbeitszimmers und schrieen beide laut auf vor Entsetzen. Der Pfarrer kam auf sie zugestürzt, so fürchterlich erregt, daß jede Möglichkeit einer Erklärung ausgeschlossen war.

      Der Amtsrichter schien die Besinnung vollständig zu verlieren. Er kauerte sich in seinem Stuhl zusammen, ohne sich zu rühren, aber Sigrun warf sich ihrem Mann entgegen, um ihn aufzuhalten.

      »Laufen Sie so schnell Sie können davon!« rief sie zugleich. Und nun setzte sich der Amtsrichter wirklich in Bewegung, er eilte auf die Tür zu, während sie selbst ihren Mann einen Augenblick festhielt.

      »Aber Eduard, was ist denn? Was hast du nur?« fragte sie.

      Er gab keine Antwort, sondern schleuderte sie auf die Seite. Sie fiel zu Boden, verletzte sich an einer Tischecke und blieb liegen; aber der Pfarrer stürzte, ohne sich um sie zu kümmern, hinter dem Fliehenden her, hinaus auf den Flur, die Treppe hinab, über den Hof.

      Lotta Hedman, die im Brauhaus noch immer vor ihrer Bibel saß, hörte plötzlich lautes Geschrei, Türenzuschlagen und flüchtige Schritte. Sie stand schnell auf, öffnete die Brauhaustür und schaute hinaus. Zwei Männer eilten an ihr vorbei über den Hof und verschwanden im Dunkel der Nacht.

      Während Lotta noch ganz entsetzt unter der Brauhaustür stand und auf die verhallenden Schritte lauschte, waren der Knecht und die Mägde in der Küche, die auch das Türenzuschlagen und die lauten Rufe gehört hatten, von ihren Plätzen aufgesprungen. Gleich darauf sahen sie die Pfarrfrau mit zerzausten Haaren, in einem unordentlich sitzenden Kleid und mit einer blutenden Wunde an der Schläfe zu sich hereinwanken. Alle wollten auf sie zueilen, aber sie hielt sie mit einer ungeduldigen Handbewegung zurück.

      »Kümmert euch nicht um mich!« befahl sie. »Lauft lieber Eduard und dem anderen nach! Lauft rasch und nehmt euch um sie an, damit nicht einer den anderen totschlägt!«

      Und als die vier ruhig stehen blieben, ohne in ihrer Bestürzung zu tun, was sie befohlen hatte, brach sie in ein heftiges Geschrei aus.

      »Warum steht ihr noch da und seht mich an! Lauft ihnen doch nach, damit nicht einer den anderen totschlägt!«

      Da machte sich der Knecht auf den Weg, und die Stallmagd, die groß und stark war, begleitete ihn; die anderen zwei aber blieben in der Küche zurück, um sich ihrer Herrin anzunehmen.

      Sie stellten ihr einen Stuhl hin und baten sie, sich zu setzen, denn sie wankte so heftig, wie wenn der Küchenboden unter ihr schwankte.

      Jetzt aber waren ihre Kräfte zu Ende, und sie fing wie ein Kind zu jammern an.

      »Bringt mich zu Lotta Hedman!« sagte sie. »Bringt mich zu Lotta Hedman!«

      So stützten denn die Mädchen ihre Herrin auf beiden Seiten und führten sie quer über den Hof ins Brauhaus.

      Lotta Hedman, die noch unter der Tür des Brauhauses stand, sah sie daherkommen; sie eilte Sigrun entgegen und führte sie zu dem Korbstuhl, der schon den ganzen Abend dagestanden und auf sie gewartet hatte.

      »Und ich habe nichts Böses getan, Lotta,« sagte Sigrun, »nicht das geringste Unrecht. Wir plauderten nur ganz ruhig miteinander; er saß im nächsten Zimmer, und dann fiel er über uns her.«

      Plötzlich wurde sie totenbleich und verlor beinahe das Bewußtsein; aber Lotta bespritzte sie mit Wasser, und da erholte sie sich rasch.

      Dann wusch Lotta Sigruns Wunde aus, und sie sah, daß diese weder tief noch gefährlich war, aber was sie sehr erschreckte, war, daß Sigrun nicht ganz bei Sinnen zu sein schien. Sie sprach unaufhörlich und wiederholte beständig ein und dasselbe. Ihre Stimme war kreischend und hart und ganz und gar nicht sanft wie sonst.

      Sie wollte offenbar Lotta erzählen, wie alles zugegangen sei, konnte jedoch nur immer dasselbe wiederholen.

      »Und ich habe nichts Böses getan. Wir plauderten nur ganz ruhig miteinander; er saß im nächsten Zimmer, und dann fiel er über uns her.«

      Sie zitterte und bebte und schaute mit weit aufgerissenen, entsetzten Augen von einem zum andern.

      »Ich habe nichts Böses getan, Lotta. Wir plauderten nur ganz ruhig miteinander; er saß im nächsten Zimmer, und dann fiel er über uns her.«

      »Ach, das weiß ich recht gut, Sigrun, daß du nichts Böses getan hast,« sagte Lotta und duzte sie wie in früheren Tagen.

      »Du verstehst doch, Lotta,« begann Sigrun aufs neue. »Ich habe nichts ...«

      Lotta versuchte sie zu unterbrechen.

      »Ich fürchte, du wirst krank, Sigrun,« sagte sie. »Wir wollen Malin bitten, dein Bett zurechtzumachen, damit du dich niederlegen kannst.«

      Als Lotta dies sagte, hörte Sigruns Redestrom plötzlich auf.

      »Nein, nicht dort! Ich gehe nie mehr zu ihm zurück,« sagte die Kranke ganz kurz und deutlich.

      »Aber liebstes Kind!« entgegnete Lotta. »Das ist doch nicht dein Ernst?«

      »Ich will hier bleiben, Lotta,« sagte Sigrun. »Und ich will mich in dein Bett legen. Ich weiß, ich werde krank. Da will ich an einem Platz liegen, wo ich mich geborgen fühle.«

      Gleich darauf begann sie wieder mit ihrem:

      »Ich habe nichts Böses getan. Wir plauderten nur ganz ruhig miteinander; er saß im nächsten Zimmer, und dann fiel er über uns her.«

      Dabei sah sie die anderen mit verstörten Augen an, gleich als wundere sie sich, warum sie nicht mit Teilnahme zuhörten.

      Lotta beriet sich leise mit den beiden Dienstmädchen. Sie hielten es für das beste, sich den Wünschen der verängstigten Hausfrau zu fügen. Rasch lief das Hausmädchen in das große Wohnhaus und kam mit Bettüchern, Kissen und Decken zurück. Und nun begann Sigrun sich schnell zu entkleiden. Sie hatten kaum das Bett in Ordnung bringen können, als sie auch schon bereit war, sich hineinzulegen.

      Noch während sie ins Bett stieg, schrie sie so laut, daß man es über den ganzen Hof hören mußte: »Ich habe nichts Böses getan. Wir plauderten nur ganz ruhig miteinander; er saß im nächsten Zimmer, und dann fiel er über uns her.«

      Als sie sich glücklich niedergelegt hatte, befahl sie Lotta Hedman mit ihrer gewohnten Stimme:

      »Du darfst nicht zu Bett gehen, Lotta. Du mußt dort draußen am Tisch sitzen und in deiner Bibel lesen. Und du darfst mich von keinem Menschen auf der ganzen Welt von hier wegholen lassen.«

      So geschah es. Lotta setzte sich vor ihre Bibel, und die Köchin und das Hausmädchen gingen ins Haus, um zu sehen, wie es dort stehe.

      Gleich darauf kam eine von ihnen zurück und berichtete, es habe sich nichts von alledem ereignet, was man hätte befürchten können. Der Gast sei entkommen, der Pfarrer aber sei während der Verfolgung in einen Graben gestürzt, und man fürchte, er habe ein Bein gebrochen. Das sei schlimm genug, doch längst nicht das schlimmste, was hätte geschehen können.

      Sigrun schrie noch immer laut ihre Erklärung; aber nachdem Lotta ihr mehrere Male versichert hatte, daß kein Kampf stattgefunden, schien sie sich zu beruhigen und schlummerte ein.

      Menschen, die auf die eine oder andere Weise Kenntnis von dem beklagenswerten Ereignis erhalten haben, das sich eine Woche später auf dem Pfarrhof von Algeröd zutrug, wollen meistens Lotta Hedman die ganze Schuld daran aufladen.

      »Wenn die junge Pfarrfrau nicht dieses überspannte Geschöpf um sich gehabt hätte, das ihr mit seinen Gesichten den Kopf verdrehte, wäre gar kein Unglück geschehen.« sagen sie.

      Aber

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