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Mensch!«

      Mittwoch, 9. November.

      Am nächsten Morgen war Niels Holgersen vor Tagesgrauen auf und ging an den Strand hinab. Ehe es noch richtig hell war, stand er eine Strecke östlich von dem Fischerdorf Smyge am Ufer. Er war ganz allein. Er war in der Gänsebucht bei dem Gänserich Martin gewesen und hatte einen Versuch gemacht, ihn zu wecken. Aber der große Weiße wollte sich nicht von der Stelle rühren. Er sagte kein Wort, steckte nur den Kopf unter den Flügel und setzte sich wieder zum Schlafen zurecht.

      Es sah so aus, als sollte es ein schöner, heller Tag werden. Es war fast so schönes Wetter wie an jenem Frühlingstag, als die Wildgänse über Schonen geflogen kamen. Das Meer lag still und regungslos da. Kein Lüftchen rührte sich, und der Junge dachte, welch eine schöne Reise die Wildgänse haben würden.

      Er selbst ging noch wie im Traum. Bald fühlte er sich als Heinzelmännchen, bald als Mensch. Wenn er eine steinerne Umfriedigung am Wege sah, wagte er kaum weiterzugehen, ehe er sich nicht überzeugt hatte, daß dahinter kein Raubtier auf der Lauer lag. Und gleich darauf lachte er über sich selbst und freute sich, daß er wieder groß und stark war, und daß er vor nichts bange zu sein brauchte.

      Als er an den Strand hinabkam, stellte er sich, so groß er war, unten am Wasser auf, damit die Wildgänse ihn sehen sollten. Es war ein großer Reisetag. Unaufhörlich ertönten Lockrufe aus der Luft. Er lächelte vor sich hin, wenn er daran dachte, daß er ja der einzige war, der verstand, was die Vögel einander zuriefen.

      Jetzt kamen auch Wildgänse geflogen. Eine große Schar nach der anderen. »Wenn es nur nicht meine Gänse sind, die wegfliegen, ohne mir Lebewohl zu sagen!« dachte er. Er wollte ihnen so gern erzählen, wie das Ganze zugegangen, und ihnen zeigen, daß er wieder ein Mensch geworden war.

      Da kam eine Schar, die schneller flog und lauter schrie als die anderen, und etwas in seinem Innern sagte ihm, daß dies seine Schar sei. Aber er war dessen nicht so sicher, wie er es am vorhergehenden Tage gewesen wäre.

      Die Schar flog jetzt langsamer, sie flog an der Küste hin und der. Da wußte der Junge, daß es seine Schar war. Er konnte nur nicht begreifen, warum die Wildgänse sich nicht neben ihm niederließen. Es war doch unmöglich, daß sie ihn da, wo er stand, nicht gesehen haben sollten.

      Der Junge versuchte einen Lockton auszustoßen, der sie zu ihm hinabrufen konnte. Aber was war das nur? Die Zunge wollte nicht. Er konnte den richtigen Laut nicht hervorbringen. Er hörte Akka oben in der Luft rufen, er verstand aber nicht, was sie sagte. »Was ist das nur? Haben die Wildgänse ihre Sprache verändert?« dachte er.

      Er winkte ihnen mit seiner Mütze zu, und er lief am Strande entlang und rief: »Hier bin ich, wo bist du?«

      Aber das schien sie nur zu beängstigen. Sie hoben die Flügel und flogen übers Meer hinaus. Da wurde ihm die Sache endlich klar! Sie wußten nicht, daß er ein Mensch war. Sie konnten ihn nicht erkennen!

      Und er konnte sie nicht zu sich rufen, weil ein Mensch die Sprache der Vögel nicht sprechen kann. Er konnte sie nicht sprechen, und er konnte sie auch nicht verstehen.

      Obwohl Niels Holgersen so glücklich war, aus seinem Zauberbann erlöst zu sein, fand er es doch bitter, so von seinen guten Kameraden getrennt zu sein. Er setzte sich in den Sand und hielt die Hände vor das Gesicht. Was konnte es nützen, ihnen nachzusehen?

      Nach einer Weile aber hörte er Flügelrauschen. Es war der alten Mutter Akka schwer geworden, vom Däumling zu reisen, und sie kehrte noch einmal zurück. Und jetzt, wo der Junge still dasaß, wagte sie es, näher an ihn heranzufliegen. Und auf einmal war es, als seien ihr die Augen dafür aufgetan, wer er war. Sie ließ sich neben ihm auf der Landzunge nieder.

      Der Junge stieß einen Freudenschrei aus und schlang die Arme um die alte Mutter Akka. Die anderen Wildgänse strichen mit den Schnäbeln an ihm auf und nieder und drängten sich um ihn. Sie klagten und schnatterten und wünschten ihm auf alle mögliche Weise Glück, und er sprach auch mit ihnen und dankte ihnen für die wunderbare Reise, die er in ihrer Gesellschaft gemacht hatte. Aber auf einmal wurden die Wildgänse so merkwürdig still, als wollten sie sagen: »Ach, er ist ja ein Mensch! Er versteht uns nicht; wir verstehen ihn nicht!«

      Da stand der Junge auf und trat an Akka heran. Er liebkoste und streichelte sie. Dasselbe tat er Yksi und Kaksi und Neljä, Viisi und Kuusi, allen den alten, die von Anfang an dabeigewesen waren.

      Dann ging er den Strand hinauf, landeinwärts, denn er wußte ja, daß der Schmerz der Vögel niemals lange währt, und er wollte sich am liebsten von ihnen trennen, solange sie noch betrübt darüber waren, daß sie ihn verloren hatten.

      Als er das feste Land erreicht hatte, wandte er sich um und sah den vielen Vogelscharen nach, die über das Meer dahinflogen. Alle riefen sie ihre Locktöne, nur eine einzige Schar Wildgänse flog ganz stumm ihres Weges, solange er ihnen mit den Augen folgen konnte.

      Aber der Zug war regelmäßig und wohlgeordnet, die Geschwindigkeit war groß und die Flügelschläge waren stark und kräftig. Und der Junge empfand eine solche Sehnsucht nach den Davonziehenden, daß er nicht weit davon entfernt war zu wünschen, er wäre wieder der Däumling und könne mit einer Schar Wildgänse über Meer und Land dahinfliegen.

       Ende.

      Als ich fünf Jahre alt war, hatte ich einen großen Kummer. Ich weiß kaum, ob ich seither einen schwereren erlitten habe.

      Es war damals, als meine Großmutter starb. Tag für Tag hatte sie bis dahin in ihrem Zimmer auf dem Ecksofa gesessen und Märchen erzählt.

      Ich kann es mir gar nicht anders vorstellen, als daß Großmutter dasaß und vom Morgen bis zum Abend erzählte und erzählte, während wir Kinder ganz still neben ihr saßen und lauschten. Es war ein herrliches Leben. Und es gab keine Kinder, die es so schön hatten wie wir. Sonst weiß ich nicht mehr viel von meiner Großmutter. Ich entsinne mich nur, daß sie schönes, schlohweißes Haar hatte, daß sie mit tiefgebeugtem Rücken einherging, und daß sie immer dasaß und an einem Strumpf strickte.

      Auch entsinne ich mich, daß sie immer, wenn sie ein Märchen erzählt hatte, ihre Hand auf meinen Kopf legte und dabei sagte: »Und all dies ist so wahr, wie ich Dich sehe und wie Du mich siehst.«

      Dabei fällt mir auch noch ein, daß sie Lieder singen konnte. Das tat sie jedoch nicht alle Tage. Eine dieser Volksweisen handelte von einem Ritter und einem Meerweib, und der Kehrreim lautete: »Es stürmt der Wind so eisig kalt auf Meereswellen hin.«

      Und dann erinnere ich mich auch noch eines kleinen Gebetes, das sie mich lehrte, und ein Psalmenvers kommt mir in den Sinn. An all die schönen Märchen, die sie mir erzählte, habe ich nur eine schwache, verworrene Erinnerung. Nur einer einzigen Geschichte entsinne ich mich so gut, daß ich sie nacherzählen könnte. Es ist eine kleine Geschichte von Jesu Geburt.

      Seht, das ist nun fast alles, was ich noch von meiner Großmutter weiß, ausgenommen das eine, dessen ich mich am besten entsinne, und das war die schmerzliche Sehnsucht, die ich empfand, als sie von uns gegangen war. Ich erinnere mich noch jenes Morgens, an dem das Ecksofa plötzlich leer dastand, und wie unbegreiflich es uns erschien, daß die Stunden jenes Tages ein Ende nehmen könnten. Dessen entsinne ich mich. Das werde ich niemals vergessen.

      Und ich erinnere mich, daß wir Kinder hereingeführt wurden, um die Hand der Toten zu küssen. Wir fürchteten uns davor, aber da sagte uns jemand, es sei das letzte Mal, daß wir Großmutter für alle Freude danken könnten, die sie uns gespendet hatte.

      Und ich erinnere mich, wie Märchen und Lieder, in einem langen, schwarzen Sarge verpackt, vom Gutshof wegführen und niemals zurückkehrten.

      Ich erinnere mich, daß uns damals etwas aus dem Leben unwiederbringlich entschwunden war. Es war, als hätte sich die Pforte einer ganzen herrlichen Zauberwelt geschlossen, in der wir zuvor frei ein- und ausgehen konnten. Und nun war niemand mehr, der sich darauf verstand,

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